Kocher, designierter neuer Arbeitsminister, Wirtschaftsforscher und derzeit noch IHS-Chef, im Interview über die Folgen der Coronakrise, neue digitale Geschäftsmodelle, eine Ökowende und dringend notwendige Strukturreformen in der heimischen Wirtschaft.
Hinweis der Redaktion: Dieses Interview ist bereits Anfang Dezember 2020 geführt worden und erschienen.
HORIZONT: Das Jahr 2020 ist mit Sicherheit die teuerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wie viel wird uns Corona aus Ihrer Sicht letztlich kosten?
Martin Kocher: Unsere Prognose vor Corona lag bei rund 1,5 Prozent Wachstum für 2020. Jetzt sind es voraussichtlich acht bis neun Prozentpunkte weniger – mit 2021 zusammen ergibt das einen Gesamteffekt von um die 60 Milliarden an Kosten im Vergleich zu einer Entwicklung ohne Corona. Die Staatsverschuldung wird von rund 70 Prozent auf über 80 Prozent im nächsten und übernächsten Jahr klettern.
Wer wird das letztlich bezahlen?
Österreich gehört in die Gruppe der absolut verlässlichsten – der besten – Schuldner und ist damit ein „beliebter“ Kreditnehmer. Das führt dazu, dass wir derzeit sehr geringe bis gar keine Zinsen zahlen. Wir rechnen damit, dass sich daran in den kommenden Jahren kaum etwas ändert. Trotzdem wenden wir natürlich jährlich etwa fünf Milliarden für Zinszahlungen auf die öffentlichen Schulden auf. Eine rasche Rückkehr zu einer soliden Budgetpolitik nach Ende der Krise ist allerdings wünschenswert. Es geht darum, die budgetäre Entwicklung wieder zu stabilisieren.
„Nach der Krise sollten wir eine leicht angepasste Richtschnur jedoch rasch in Kraft setzen.“
Martin Kocher
Ganz Europa ist von einer enorm gestiegenen Staatsverschuldung betroffen. Bringt das nicht auch den Euro in eine Schieflage? Das betrifft nicht nur Europa, sondern zum Beispiel die USA genauso. Ein Blick auf den Wechselkurs zum Dollar zeigt: Der Euro wertet sogar auf. In der Folge der Finanzkrise 2008 und 2009 hat das europäische Finanzsystem gezeigt, dass es auch großen Belastungen standhält. Was bei der Covidpandemie hinzukommt, ist der Wiederaufbaufonds mit 750 Milliarden Euro: Das erste Mal, dass sich die EU als Gemeinschaft verschuldet. Diese Mittel können neben den Hilfen für die gebeutelten Mitgliedsländer auch anderswo positive Effekte bringen, zum Beispiel beim Klimaschutz oder bei der Digitalisierung.
Wäre 2011 Griechenland mit einer deutlich geringeren Verschuldung fast zum Sargnagel des Euro geworden, so liegt das Land nun mit seiner Schuldenquote über 200 Prozent. Österreich fast auf spanischem Niveau (2019: 95 Prozent) vor Corona. Ist Maastricht nun egal oder werden wir diese Folgen erst zu spüren bekommen?Zu Griechenland gibt es zwei Lesarten: Auf der einen Seite ist klar, dass es die Rettung Griechenlands ex post betrachtet auch „billiger“ gegeben hätte. Auf der anderen Seite ist der Finanzsektor im Gefolge der Krise 2008/09 und dem Sonderfall Griechenland stabiler geworden und heute besser reguliert und abgesichert. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt beziehungsweise die Maastricht-Kriterien sind entscheidende Bausteine für die monetäre und fiskalische Architektur Europas. In den vorangegangenen „guten“ Zeiten hätte ich mir da mehr Vertragstreue auf Ebene der Mitgliedsstaaten gewünscht. Für eine schwere Krise sieht Maastricht jedoch auch ein vorübergehendes Aussetzen vor – die „generelle Ausweichklausel“, die 2021 gilt. Nach der Krise sollten wir eine leicht angepasste Richtschnur jedoch rasch in Kraft setzen.
„Für einen kleineren, flexiblen Player wie Österreich sehe ich die Chancen in Digitalisierung, Innovation und der dringend nötigen Ökowende. “
Martin Kocher
Welche Maßnahmen müssen wir nun setzen, um aus dieser Krise möglichst ohne größere Schäden herauszukommen?Mir gefällt das Bild eines „Aus der Krise Herauswachsens“. Es war richtig, dass die Bundesregierung der Wirtschaft rasch und entschlossen unter die Arme gegriffen hat. Mit Kurzarbeitergeld, Kostenersätzen und Stundungen ist 2020 sicher Schlimmeres verhindert worden. In den nächsten Monaten werden wir mehr Sicherheit über die weitere Entwicklung der Pandemie haben. Dann müssen wir die Maßnahmen rasch anpassen. Für einen kleineren, flexiblen Player wie Österreich sehe ich die Chancen in Digitalisierung, Innovation und der dringend nötigen Ökowende – Bereiche, in denen es auch Potenzial für neue Jobs gibt.
Welche Branchen werden noch in den kommenden Jahren unter den Folgen leiden?Bei breiter Immunisierung der Bevölkerung – einem möglichst hohen Durchimpfungsgrad – könnte der Tourismus relativ rasch wieder an Fahrt aufnehmen. In Bereichen, wie zum Beispiel der Zulieferindustrie für Fahrzeug- und Flugzeugbau oder der Luftfahrt, wird die Erholung länger dauern. Hier vermischen sich auch strukturelle und konjunkturelle Effekte. Die Betroffenheiten sind sehr unterschiedlich, selbst innerhalb einer Branche. Beim Kongresstourismus erwarte ich zum Beispiel nur eine sehr langsame Erholung.
Und welche Segmente der Wirtschaft werden durch die großen Umwälzungen nun einen Aufschwung erfahren?Neue digitale Geschäftsmodelle, Onlinehandel, die Medizin- und Gesundheitsindustrie. Ich kann mir gut vorstellen, dass uns die Themen Gesundheit und Pandemieforschung die kommenden Jahre erhalten bleiben – generell werden bestehende Trends verstärkt werden. Dass die Digitalisierung voranschreitet, war uns auch 2019 schon klar. Nun ist die Entwicklung aber wahrscheinlich erheblich schneller.