Am 5. Oktober 1965 erschien die NÖN zum ersten Mal. HORIZONT sprach mit Chefredakteur Harald Knabl über Lokaljournalismus damals und heute
HORIZONT: Wie haben sich die Inhalte der NÖN verändert? Was war vor 50 Jahren „a guade Gschicht“ und was ist heute eine gute Geschichte?Knabl: Ich will die Veränderungen gar nicht an den Hauptgeschichten festmachen. Eine gute Geschichte ist immer eine gute Geschichte und wird auch immer eine bleiben. Große Veränderungen hat es im Serviceteil gegeben. Früher waren Informationen, die der Leser heute auf Knopfdruck bekommt, in der Zeitung extrem wichtig. Als ich etwa vor etwa 30 Jahren mein journalistisches Handwerk nach meinem Studium bei der NÖN erlernt habe, war für den Bezirk Mistelbach der wöchentliche Ferkelpreis eine wesentliche Nachricht. Diese Information war für die hiesigen Landwirte extrem wichtig und sie haben die Entwicklung dieses Preises mit Spannung verfolgt. Vor vielen Jahren habe ich eingeführt, dass die NÖN wöchentlich eine Ozonstatistik bringt. Solche Informationen muss eine NÖN heute nicht mehr bringen, weil sie online auf Knopfdruck abrufbar sind. Wir dürfen am Alten nicht haften bleiben, sondern müssen uns immer wieder aufs Neue fragen: Was brauchen und erwarten unsere Leser tatsächlich von uns? Im Oktober dieses Jahres werden wir wieder eine Blattreform machen, bei der wir uns diese Frage stellen und eine Antwort darauf geben.
HORIZONT: Was ist die NÖN für Niederösterreich?Knabl: Wir wollen Mitglied der Niederösterreich-Familie und der Familien Niederösterreichs sein. Wir wollen ständiger Begleiter, Moderator, Erklärer sein. Wir wollen mehr als eine Zeitung sein, die über Niederösterreich berichtet. Wir wollen Teil dieses Landes sein. Ich sage immer: mitweinen, mitlachen, mithelfen. Was man von uns nicht erwarten kann: Wir werden das Land nicht beschimpfen. Ich meine damit nicht das offizielle Land, sondern Niederösterreich als Ganzes. Wir werden uns nicht bekleckern. Aufzeigen ja, aber wir stehen zu Niederösterreich. Das gilt im Übrigen auch für die BVZ im Burgenland.
HORIZONT: Ticken Zeitungsverleger heute anders als vor 50 Jahren?Knabl: Ja – aus wirtschaftlicher Notwendigkeiten heraus. Die NÖN wurde ja in den goldenen Zeiten des Printwesens gegründet. Da hat man auf das Wirtschaftliche nur wenig Rücksicht nehmen müssen. Die Redaktionsstatuten aus dieser Zeit zeugen davon. Sinngemäß stand da drinnen, dass es der Zeitung erlaubt ist, eine Anzeigenabteilung zu haben und die Werbekunden die Anzeigenannahmezeiten einzuhalten haben, sonst erscheint das Inserat nicht. Wenn sich damals ein Journalist und Anzeigenkäufer im Lift getroffen haben, war die Frage, ob die sich überhaupt grüßen, geschweige denn miteinander reden. Das hat sich alles geändert, ja ändern müssen. Es ist schön, dass sich unsere drei Eigentümer (Diözese St. Pölten, Presseverein der Diözese St. Pölten und die Raiffeisen-Holding Niederösterreich-Wien, Anm.) dazu bekennen, eine Kaufzeitung machen zu wollen. Wir wollen die Menschen dieses Landes aus unserer Weltanschauungssicht nicht manipulieren, sondern informieren. Jeder weiß, wofür die NÖN steht. Ich halte es für legitim, wenn die Eigentümer sagen: Wir wollen eine Kaufzeitung sein, wir wollen die Leute informieren, achtet darauf, dass es sich ausgeht und dass ihr auch Gewinn macht. Das ist nämlich nicht unvereinbar.
HORIZONT: Ich nehme an, dass Sie als Chefredakteur mit den Eigentümern der NÖN zufrieden sind, sonst wären Sie wohl nicht so lange dabei. Hat diese Zufriedenheit besondere Gründe?Knabl: Ich weiß nicht, ob sich die NÖN-Eigentümer so stark von anderen unterscheiden. Gewinn auf Teufel komm raus – das ist bei uns nicht so vorgeschrieben. Wir tun nicht alles, um Gewinn zu maximieren. Was unsere Eigentümer und uns vielleicht von anderen Medien unterscheidet, ist das stärkere Bekenntnis zu unseren Grundwerten.
HORIZONT: Ein starker Trend am Medienmarkt ist die Konvergenz der Kanäle. Zahlreiche Printverlage bieten schon Bewegtbild; Online ist eine Selbstverständlichkeit. Wie bewegt sich die NÖN in diesem Trend? Knabl: Zu Beginn waren wir im digitalen Bereich sehr vorsichtig. Als Wochenzeitung standen wir vor dem Dilemma: Wenn wir alle Meldungen gleich online bringen – was bleibt dann noch für die Printausgabe? Diese Problematik haben wir gelöst. Die NÖN ist wie schon erwähnt von einem Nachrichten gebenden zu einem Nachrichten erklärenden Medium geworden. Ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen, die für die NÖN arbeiten, akzeptiert auch meine Ansicht, dass die NÖN nicht allein die gedruckte Zeitung, sondern eine Marke ist – und, dass wir diese Marke mit allem bespielen müssen, was wir haben. Das müssen wir sehr klug tun. Wir wissen, wovon wir heute leben; wissen aber auch, wohin die Reise geht. Zeitungsinhalte im digitalen Kanal – diese Herausforderung haben wir gut gelöst. Hier verweise ich nur auf die explosionsartige Steigerung bei den Zugriffen auf unsere Website, seitdem wir dort die Inhalte stark regionalisiert haben. Wenn ein User seinen Heimatbezirk angibt, dann bekommt er alle News, Storys und Infos aus seinem unmittelbaren Lebensumfeld angezeigt.
HORIZONT: Und wie steht’s mit Bewegtbild? Knabl: Ja, das ist jetzt der nächste Schritt und wir stoßen da an unsere Grenzen. Bei Online haben wir sagen können: „Lieber Kollege, wenn du dieses Interview machst, dann ist es ja egal, ob du es für die Zeitung oder die Website machst, im Prinzip ist das ja die gleiche Arbeit.“ Aber Bewegtbild ist für eine Printredaktion etwas völlig Neues. Für dieses Problem gibt es mehrere Lösungen. Wir haben uns dagegen entschieden, Beiträge des ORF Niederösterreich, den ich sehr schätze, auf unserer Website zu veröffentlichen. Denn was soll das bringen, wenn der User den gleichen Beitrag auch in der TVthek des ORF abrufen kann. Wir überlegen in mehrere Richtungen – etwa Beiträgen von Usern. Da hatten wir im letzten Jahr ein schönes Beispiel: Ein von einem User gedrehtes Video über das Hochwasser in Lilienfeld hat äußerst viele Zugriffe gebracht. Wir selbst werden auch ein kleines eigenes Team für Bewegtbild zusammenstellen. Daran führt kein Weg vorbei.
HORIZONT: Wann?Knabl: Diesen Schritt werden wir sehr bald, wenn auch mit sehr kleinen Dingen setzen. Vorher haben wir noch vor, ein paar Onlineportale zu launchen. Im Herbst startet unsere exklusive Zusammenarbeit mit dem Niederösterreichischen Fußballverband. Unser Portal wird dann alle Fußballpartien in Echtzeit anbieten, Live-Ticker, Spielberichte und auch Videos.
HORIZONT: Die Marke NÖN steht nicht nur für die Zeitung, sondern für mehr. Wie weit lässt sich die Marke erweitern; welche Angebote könnten in Zukunft noch mit „NÖN“ gebrandet sein?Knabl: Theoretisch alle Angebote, die sich mit den Werten der NÖN vereinbaren lassen. Reisen beispielsweise veranstalten wir schon lange. Wir schicken etwa jedes Jahr 500 Damen auf Muttertagsreise. Kürzlich erst haben wir einen Heimatshop (www.heimatshop.at) gelauncht, in dem der User lokale Produkte direkt vom Produzenten online bestellen kann. Der Zuspruch darauf ist gut. Die Zusammenarbeit mit dem Niederösterreichischen Fußballverband habe ich bereits erwähnt. Die NÖN ist auch Partner von etwa 80 beziehungsweise 85 Prozent der in Niederösterreich stattfindenden Events. Ein neues Jobportal werden wir auch demnächst starten. Unser Partyportal nitelife.at, das derzeit den Zentralraum Niederösterreichs abdeckt, wird auf das gesamte Land ausgedehnt. Und es wird noch viele weitere Projekte geben. Manches wird ein Blödsinn sein, manches wird funktionieren. Ich schließe da fast nichts mehr aus.
HORIZONT: Hat es diese Bereitschaft, einfach Dinge auszuprobieren, bei der NÖN schon immer gegeben, oder ist diese in den letzten Jahren gewachsen?Knabl: Das haben wir und auch unsere Eigentümer lernen müssen. Früher hat man erst dann etwas gemacht, wenn man halbwegs gewusst hat, dass sich das innerhalb kurzer Zeit finanziert oder gar von Beginn an rechnet. Diese Haltung hat nicht unbedingt dazu ermutigt, etwas Schräges zu probieren, bei dem der Ausgang völlig offen war. Die neuen Medien und die lange Ratlosigkeit der Verleger, wie mit ihnen umzugehen ist, hat die Bereitschaft zum Experimentieren wachsen lassen.
HORIZONT: Es ist ein offenes Geheimnis, dass so mancher Anzeigenkunde Einfluss auf den redaktionellen Teil einer Zeitung nehmen will. Ist dieser Druck in den Jahren stärker geworden?Knabl: Die Mechanik, dass ein Anzeigenkunde seine Aufträge storniert, wenn eine bestimmte Geschichte erscheint, die gibt es nicht. Das wäre zu platt. Die Begehrlichkeiten sind andere: Wie viel redaktionellen Raum gibst du mir dazu, damit ich bei dir inseriere – und diese Wünsche sind wesentlich stärker geworden. Da sind wir Medienmacher aber auch selber schuld, besonders jene, deren ärgster Feind die eigene Redaktion ist, weil sie etwas kostet.
HORIZONT: Wie geht die NÖN mit solchen Begehrlichkeiten um?Knabl: Zu einem gewissen Grad muss man mitspielen. Soweit man eben kann. Die NÖN ist eine Kaufzeitung, für die der Leser stolze 2,90 Euro bezahlt. Hier liegt eben der Unterschied zu den Produkten, die zwangsweise ins Haus kommen.
HORIZONT: Zwei große Player – die Regionalmedien Austria AG und Tips – beackern den niederösterreichischen Wochenzeitungsmarkt mit Gratiszeitungen. Wie lässt es sich damit leben?Knabl: Es ist unbestritten,dass wir vor allem im wirtschaftlichen Bereich diese Gratiskonkurrenz gespürt haben und spüren. Es wäre gelogen zu sagen, es gibt mittlerweile ein gedeihliches Nebeneinander. Es muss jeder laufen und das Möglichste herausholen. Wir haben die Herausforderung angenommen. Auf dem Lesermarkt ist die Konkurrenz viel eingeschränkter. Da hat sich herausgestellt, dass es einen Riesenunterschied gibt, zwischen dem was wir liefern und was diverse Gratiszeitungen liefern können. Es war und ist aber Aufklärungsarbeit notwendig, um zu zeigen, welche Inhalte da geboten werden und vor allem warum. In diesem Zusammenhang bin ich auch von bestimmten Institutionen ein wenig enttäuscht.
HORIZONT: Von welcher?Knabl: Von der Journalistengewerkschaft, die einerseits die bei den Kaufmedien beschäftigten Kolleginnen und Kollegen stark vertreten und versuchen, bestimmte kollektivvertragliche Dinge aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite sind die Bemühungen der Gewerkschaft sehr schwach, wenn es darum geht, einen Kollektivvertrag für bei Gratismedien arbeitende Journalisten abzuschließen. Da denke ich mir: Einerseits wird argumentiert, dass es keine echten Journalisten sind, die bei Gratismedien arbeiten, sondern Mitarbeiter, die anzeigengetrieben sind. Andererseits weisen die Gratismedien in der Werbung darauf hin, welch tolle inhaltliche Qualität und regionale Themen sie bieten. Da passt etwas nicht zusammen und da schaut auch jemand zu. Deshalb bin ich da ein wenig enttäuscht, weil ich das Verhandlungsgeschick der Journalistengewerkschaft ja kenne. Teilweise leidvoll.
HORIZONT: Eine letzte – persönliche – Frage noch. Was würden Sie beruflich machen, wenn Sie nicht erster Chefredakteur der NÖN wären?Knabl: Ich hätte keinen anderen Beruf gewollt. (Überlegt ein wenig) Ich wäre wahrscheinlich bei einem anderen Medium Chefredakteur.
[Rainer Seebacher]