Jenseits des HORIZONT
 

Jenseits des HORIZONT

Untaugliche Mittel

Der britische Premierminister David Cameron will Facebook und andere Social-Media-Dienste verbieten. Er bezeichnet die Aufständischen in den englischen Städten als kriminell. Richtig ist, dass die Vandalenakte und Gewalteskalationen, die Diebstähle und Brandanschläge kriminelle Akte sind. Sie kommen nicht aus heiterem Himmel.

UK ist das EU-Land mit den eklatantesten Einkommensunterschieden und der höchsten Diskrepanz zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Ein Großteil der Aufständischen und „Kriminellen“ sind Schulabbrecher, Analphabeten, alkoholsüchtig, perspektivenlos. Es sind Kinder von Eltern, die selbst nie Arbeit gefunden haben undderen Eltern schon am Rande des Existenzminimums lebten.

Das führt zu Wut, Verzweiflung und irgendwann einmal zum Verlust jeglicherMoral, jeglichen Unrechtsbewusstseins. Wernichts zu verlieren hat, kann auch keine bürgerlichenTugenden verteidigen und leben.Derselbe Cameron ruft die Bürger auf, sich zuwehren. Englands Mittelschicht, ebenfallsangstgeprägt und an der Kippe zur Verarmung,bewaffnet sich. Und schlägt zurück. Brutal.Selbstgerecht. Die Bürgergesellschaft maßt sicheigene Gerichtsbarkeit an. Das inkriminiert denStaat. Derselbe Cameron hat ein Sparprogrammverabschiedet, das mit Maß und Ziel nichtsmehr zu tun hat: weitere Einschnitte in der ohnehinschon fragilen Gesundheitsversorgung,deutliche Erhöhung der Studiengebühren, Kürzungender Sozialleistungen, Stopp bei öffentlichen Gehältern. Und das in einem Land, dessenWirtschaft seit Jahren nicht mehr wächst, dessenIndustrie marod ist.Das stört die Finanzjongleure in Londonwenig. Sie erholen sich mit Champagner von Krise zu Krise, die fiktiven Milliardenverlustebei einem Crash werden bis zum nächstenCrash wieder eingesammelt. Die Partys sindlediglich kurz unterbrochen.In Syrien schießt Diktator Bashar al-Assadweiterhin in die aufrührerische Menge und argumentiert,dass er dasselbe mache wie seinenglischer Kollege Cameron. Kriminelle Menschenmüsse man erbarmungslos bestrafen.Sein Zynismus wird zwar in den Medien kommentiert,von der UNO und selbst von den arabischenStaaten verurteilt. Die Welt sieht aberzu. Inzwischen spannt man Rettungsschirme,werden Staaten wie Italien, Spanien und baldauch Frankreich von den Rating-Agenturen abgestraftund von Finanzhaien erpresst, druckenEZB und FED Unmengen von Geld. Und keinerweiß, wofür.In Europa, dem höchstentwickelten Kontinent,sind quer durch alle Staaten 25 Prozent derjungen Menschen arbeitslos. Die Analphabetenrateist auf zehn Prozent gestiegen. Der Arbeitsmarktwird sich weiter verschärfen. WenigQualifizierte werden nicht benötigt. Sie werdenniemals Arbeit finden.Wer seinem Leben keine Perspektive gebenkann, wird depressiv oder gewalttätig oder beides.Zwangsläufig verliert er Achtung: vor sich,den anderen, den Gesetzen und Autoritäten.Prügel, Bomben, Waffen sind die Antwort.Inzwischen rasen Finanztransaktionen,werden gewaltige Summen fiktiven Geldesverbrannt und gleichzeitig produktives Kapitalvernichtet. Alles brennt. Irgendwo in den Flammenscheint man die böse Fratze zu sehen. DieWelt schaut weg, die Medien jonglieren zwischenVoyeurismus und Scheinkritik, steigern Auflagen und Sendezeiten. Bürgerliches Publikumsieht am Schirm zu.Stéphane Hessel, 93-jährig, schrieb: Indignezvous! Empört euch!jenseits@horizont.at
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