Clara Porak ist Initiatorin von ‚andererseits‘. Mit HORIZONT spricht sie über neue Redaktionsmodelle, Inklusion und einen Perspektivenwechsel im Journalismus.
Clara Porak: Wir sind ein Projekt für Inklusion im Journalismus. Das bedeutet, dass bei uns Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam arbeiten. W
Das Projekt wurde durch der Wiener Medieninitiative gefördert. War die Förderung von andererseits entscheidend für den Launch?
Wir haben mit andererseits im ersten Lockdown im März begonnen, eigentlich einfach als Experiment. Die Frage war, ob das funktionieren kann und was aus andererseits eigentlich werden soll, was die Zukunft bringen kann. Im Mai haben wir dann eine Website gelauncht. Wir haben schnell gemerkt, dass es ein eigenes Medium braucht, um Inklusion im Journalismus voranzutreiben. Die Grundidee von Inklusion ist ja, dass Menschen, die nicht „reinpassen“, sich nicht anpassen müssen, sondern dass sich die anderen Menschen anpassen.
Gerade arbeiten wir alle ehrenamtlich, was auch unser größtes Problem ist. Die Wiener Medieninitiative ist ein guter Anfang, dennoch ist die Finanzierung schwierig. 10.000 Euro sind gar nicht mal so viel. Aber langfristig wollen wir uns als eigenes Medium finanzieren können.
Wie ist die Redaktion denn zusammengesetzt und wie arbeiten Sie gemeinsam?
Circa 50 Prozent der Teammitglieder haben eine Behinderung. SeitJänner arbeiten wir mit redaktionellen Schwerpunkten. Wir planen also zum Beispiel das Thema „Handysucht“. Die Idee ist, dass wir aus verschiedenen Perspektiven auf dieses Thema blicken, das macht unseren Journalismus auch so wertvoll. Dafür haben wir beispielsweise eine Informatikerin gefragt, wie sich Algorithmen aus unser Social-Media-Verhalten auswirken, gleichzeitig hat ein Redakteur recherchiert, welche Auswirkungen Handysucht auf Kinder haben kann und eine andere Redakteurin hat über ihr eigenes Nutzerverhalten geschrieben. Wir wollen auch später mit Datenjournalismus arbeiten. Und so bringen ebenfalls Diversität in unsere Formate.
Und gerade marginalisierte Gruppen haben oft wenig Platz in der öffentlichen Debatte, dabei können gerade sie uns gut zeigen, wo es Ungerechtigkeiten gibt und wo wir noch an uns arbeiten müssen. Deshalb arbeiten wir viel mit Gefühlen. Man muss auch immer differenzieren, welche Art von Behinderung ein Mensch hat, denn Behinderung hat ein großes Spektrum. Sehr präsent ist in der Öffentlichkeit der Rollstuhl, da weiß jeder sofort, dass die Person eine Behinderung hat. Aber auch für andere Menschen gibt es wahnsinnig viele Barrieren im Alltag und in der Gesellschaft. Zum Beispiel für Menschen mit intellektueller Behinderung. Das ist auch die Gruppe, die bei andererseits am stärksten vertreten ist.
Da gibt es viele Gründe. Ich glaube, es fehlt das Bewusstsein, dass Inklusion überhaupt ein Thema ist und dass eine Marginalisierung von Menschen mit Behinderung nicht nur die zehn Prozent mit einer Behinderung betrifft, sondern auch die 90 Prozent, die keine haben, weil wir uns dadurch definieren, was wir können. Zumindest teilweise. Inklusion ist ein Problem, das jeden etwas angeht. Diversität wird in vielen Redaktionen als „nice to have“ angesehen, aber nicht als essenziell. Aber wir glauben, dass es eben für die Zukunft des Journalismus wichtig ist und man nicht nur die Perspektiven der Eliten erzählen kann. Wir brauchen einen Diskurs über Objektivität. In der Politik, in der Wissenschaft und in vielen anderen Gesellschaftsbereichen führen wir diese Diskussion schon, im Journalismus weniger. Es wird so getan, als könne man objektiv berichten, obwohl wir ja eigentlich alle wissen, dass das nur mit vielen Einschränkungen möglich ist. Außerdem geht es oft einfach um Zeit- und Gelddruck.
Und wo haben Sie Ihre Redakteurinnen und Redakteure gefunden? Wie ist Ihr Team zusammengekommen?
Mein Bruder hat Downsyndrom und ist auch gerade Teil des Redaktionsteams. Ich habe mich also schon immer viel mit dem Thema Behinderung und Gesellschaft auseinandergesetzt. Ich habe eine große Recherche über meinen Bruder und seine Klassenkameraden gemacht habe, als die gerade mit der Schule fertig geworden sind, und im ersten Entwurf hatte ich den Satz stehen: Eigentlich sollte nicht ich diese Geschichte erzählen, sondern die jungen Menschen, die darin vorkommen. Der Redakteur, der meine Geschichte betreute, meinte, man müsse das streichen, denn die Leser würden sich fragen, warum die jungen Menschen ihre Geschichte denn nicht selbst erzählen. Und diese Frage hat mich dann sehr beschäftigt: Warum ist es eigentlich so? Deswegen habe ich einen Social-Media-Post zu der Idee von andererseits gemacht, um zu schauen, wer dabei sein würde. Mein Bruder ist von Anfang an Teil des Teams. Dann haben sich zwei junge Frauen für die Redaktion gemeldet und wir drei sind nun das Kernteam geworden, das den Rahmen schafft. Wir denken nicht hierarchisch, wir haben keine Chefredaktion oder ähnliche Strukturen. Es gibt Personen, die Pläne schreiben und welche, die davon verschont bleiben. Zuletzt ist unsere Redaktion auch sehr gewachsen, wir sind mittlerweile etwa 20 Leute. Die meisten haben sich eben über Social Media gemeldet oder sind sozusagen Bekannte von Bekannten.
Für neue Mitglieder posten wir immer ein Foto von ihnen und ein kurzes Zitat auf den Sozialen Medien. Einer unserer Autoren hat darin gesagt: „Ich finde es gut, dass jetzt auch Menschen mit Behinderung Journalisten werden können.“ Das war ein arger Moment.
Menschen haben allgemein sehr wenig Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung, das merken wir auch oft bei Interviews. Zum Beispiel mit Experten, die dann häufig gar nicht wissen, wie sie ihren akademischen Sprech verständlich machen können. Das betrifft aber nicht nur Menschen mit Behinderung, das betrifft ja auch all jene, die keinen hohen formalen Bildungsgrad haben, auch die sollen ja die Inhalte eigentlich gut verstehen.
Ich würde mir wünschen, dass das Thema Behinderung und Inklusion überhaupt erstmal in den Medien aufgegriffen wird. Am 3. Dezember war „Welttag der Behinderung“ und
Ich glaube, es ist auch vielmehr ein politisches Problem, als ein Problem der Redaktionen. Es gibt quasi kaum rechtliche Verpflichtungen, Menschen mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Es gibt kein Bewusstsein dafür – Menschen mit Behinderung werden auch von der Politik zu selten zum Thema gemacht und auch den Redaktionen gibt es zu wenig Menschen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Weil wir darüber kein größeres Wissen haben.
Sie haben die Darstellungsweise angesprochen. Wo liegt Ihr Kritikpunkt?
Alle Menschen werden unterschiedlich geboren. Sie haben unterschiedliche Fähigkeiten
Es geht darum, Menschen mit Behinderung nicht mit der Eigenschaft „Behinderung“ darzustellen, sondern in allem darüber hinaus. Natürlich ist die Behinderung ein wichtiges Thema, weil diese Menschen ganz andere Alltagserfahrungen machen. Es ist auch wichtig, die Behinderung mitzudenken, aber nicht, sie nur zu denken oder zu bemitleiden.
Ich habe einen Artikel über ein Mädchen mit Behinderung und ihren Erfahrungen in einer neuen Klasse gelesen und sie hat darin den Satz gesagt: „Meine Mitschüler sind jetzt sogar mit mir befreundet.“ Das wird also als Besonderheit und nicht als Selbstverständlichkeit dargestellt, dass jemand ohne Behinderung mit ihr befreundet ist. Und das zeigt, wie tief das in unserer Gesellschaft internalisiert ist. Ganz oft werden Menschen mit Behinderung gezeigt, die entweder bemitleidenswert und hilfsbedürftig sind, oder eben das genaue Gegenteil. Das Narrativ: „Obwohl er ein fürchterliches Schicksal hat, schafft er es trotzdem.“ Eine Behinderung ist