Der britische 'Guardian' hat den finanziellen Turnaround geschafft. Leser tragen mehr zum Umsatz bei als Werbung – und das ganz ohne Bezahlschranke.
Eine Branche sucht ihr Geschäftsmodell – das erklärt wohl auch den Andrang beim Vortrag von Amanda Michel beim Media Innovation Day im November. Die Amerikanerin arbeitet seit acht Jahren für den britischen Guardian, seit vergangenem Jahr ist sie Global Director für das Spendenmodell der Zeitung. Dass sie und ihre Kollegen ihre Jobs noch haben, ist nicht selbstverständlich: „Die Zeiten fühlen sich sehr unsicher an. Das wird nicht aufhören”, meinte Michel zur Stimmung in der Medienbranche. Noch vor wenigen Jahren war der Guardian selbst in schweren finanziellen Turbulenzen. Die operativen Verluste lagen im Geschäftsjahr 2014/15 noch bei rund 83 Millionen Pfund (97 Millionen Euro). Inzwischen bilanziert die Zeitung operativ ausgeglichen. Michel: „Ich denke, man kann sagen, dass wir die Antwort für uns und ein Modell für den Guardian gefunden haben.” Bevor im Saal Jubel aufkommen konnte, schränkte sie aber ein: „Ich bin nicht hier, um Sie davon zu überzeugen, dass es notwendigerweise das ist, was Sie tun sollen.”
Keine Paywall
Das hat auch mit der Eigentümerstruktur zu tun: Der Guardian gehört dem Scott Trust, den der Gründer der Zeitung in den 1930er-Jahren eingerichtet hat. Die Stiftung sitzt auf Hunderten Millionen Pfund Reserven, weswegen die Zeitung während der kostspieligen Transformation immer genug Kapital zur Verfügung hatte. „Diese einzigartige Struktur ist unglaublich wichtig, weil unsere Einkünfte direkt in den Journalismus fließen und nicht in die Taschen von Aktionären”, so Michel. Das ermöglichte dem Guardian auch, jahrelang an einem Modell für Lesereinnahmen zu feilen, das nun erste Früchte trägt. Eine Paywall, wie sie auch von heimischen Medien ausprobiert wird, war laut Michel nur kurz Thema: „Wir begannen aus der Position heraus, dass unser Journalismus offen und für jeden zugänglich sein soll. Wir wollten ein Modell, das in so vielen Regionen wie möglich funktioniert.” Prognosen hätten auch gezeigt, dass sich eine Paywall nicht rechnet.
Deswegen steht das finanzielle Modell der Zeitung auf zwei Beinen: Werbung auf der einen und Lesereinkünfte auf der anderen Seite. Die Leser spenden freiwillig – manche regelmäßig, manche unregelmäßig – einen Beitrag für den Guardian, damit dessen Inhalte weiterhin für alle zugänglich bleiben. Auch Abos funktionieren nach einem grundsätzlich anderen Prinzip als bei anderen Medienhäusern: Man bekommt mit einem Abo nicht mehr oder exklusivere Inhalte. Der Unterschied für Abonnenten ist, wie sie den Journalismus konsumieren können, nicht der Zugang zum Journalismus an sich. „Nehmen Sie als Beispiel unser Wochenmagazin: Sie werden keine einzige Geschichte darin finden, die nicht auch auf guardian.com zu finden ist, aber sie zahlen, weil sie den Journalismus wöchentlich zugestellt bekommen”, erklärte Michel.
In der App habe man als Abonnent darüber hinaus zusätzliche, kuratierende Tools zur Verfügung. Der Inhalt bleibe aber für Abonnenten und Nicht- Abonnenten der gleiche. Der Guardian hat dabei einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Er publiziert in Englisch und kann deswegen global nach neuen Lesern fischen – anders als etwa deutschsprachige Medien. Zwei Drittel der Leser des britischen Guardian leben nicht im Vereinigten Königreich. Aber auch diese Leser mussten zunächst einmal überzeugt werden, Geld für ein Produkt auszugeben, das sie ohnehin gratis konsumieren können. Transparenz sei dabei entscheidend: In Fokusgruppen und Umfragen habe sich immer wieder herausgestellt, dass viele treue Guardian-Leser gar nicht gewusst hätten, in welch großen finanziellen Schwierigkeiten das Blatt steckt. „Als Nachrichtenorganisation sind wir wirklich talentiert darin, Geschichten über andere Menschen zu erzählen. Es hat sich herausgestellt, dass wir erst lernen mussten, wie wir unsere eigene Geschichte erzählen.
Wenn man Menschen darum bittet, dass sie einen unterstützen, muss man erklären, wer man ist und warum man ihre Hilfe braucht“, erklärte Michel. Um das aber überhaupt herausfinden zu können, musste man zunächst die internen Prozesse umkrempeln.
Der Guardian verpflichtete sich zu Forschung: Erst Umfragen, Fokusgruppen und viele Experimente über Jahre hinweg hätten Erfolg bei den Lesererlösen gebracht. „Der Großteil unserer Arbeit ist auf Forschung basiert. Das heißt, viele Gespräche mit Lesern zu führen und Umfragen durchzuführen”, verriet Michel gegenüber HORIZONT. Erst durch Trial und Error konnten die Spendenaufrufe so gestaltet werden, dass sie den Durchbruch brachten. Und der Erfolg gibt ihr recht: Lesereinnahmen tragen inzwischen mehr zum Umsatz bei als Einkünfte aus Werbung, die auch beim Guardian unter Druck sind. Insgesamt eine Million Spender unterstützen das Medienunternehmen derzeit, regelmäßige Einkünfte kommen von mehr als 600.000 Spendern und Abonnenten. Auf dem Erreichten wolle man sich aber nicht ausruhen. In den nächsten drei Jahren sollen zwei Millionen Unterstützer erreicht werden. Spendenaufrufe, Ansprache von neuen Lesern und Erinnerungsmails werden daher ständig adaptiert.
Ausgabenkürzung
Freilich ist das Guardian-Modell nur bedingt für andere Medien anwendbar, wie auch Michel immer wieder betonte. Jedes Medium müsse seinen eigenen Pfad finden. Es gehe nicht nur um das Modell, sondern vielmehr um die Sinnfrage, die sich jede journalistische Organisation stellen müsse: Wer ist man, wofür steht man, welche Community hat man? Was Michel elegant auslässt: Neben steigenden Einnahmen aus dem Supporter-Modell gibt es noch einen anderen Grund, warum ihr Arbeitgeber nicht mehr tiefrote Zahlen schreibt: Der Guardian hat seine Ausgaben drastisch gekürzt: von 293 Millionen Pfund vor vier Jahren auf 223 Millionen in diesem Jahr. Erreicht wurde das unter anderem durch Jobabbau.