Der Job als Gradmesser der Freiheit
 

Der Job als Gradmesser der Freiheit

Screenshot ORF TVthek
Jörg Winter, ORF-Korrespondent in Istanbul, berichtet aus der Türkei.
Jörg Winter, ORF-Korrespondent in Istanbul, berichtet aus der Türkei.

Harte Zeiten für Journalisten in der Türkei: ORF-Korrespondent Jörg Winter muss sich an eine neue Form des Arbeitens gewöhnen

Dieser Artikel erschien bereits in der HORIZONT-Printausgabe 10/2016 vom 11. März. Hier geht's zum Abo. 

Vergangenen Freitag stürmten Polizisten die Redaktion der Zeitung "Zaman" in Istanbul. Die Bilder gingen um die Welt. Aber was bedeutet das für die Türkei und deren Verhandlungen mit der EU in der Flüchtlingsfrage? Jedes Mal, wenn es in den Nachrichten des ORF Fragen wie diese zu klären gibt, kommen die Auslandskorrespondenten ins Bild. Sie ordnen das Geschehen ein und treffen erste Analysen. Zugleich sind sie mittendrin statt nur dabei, wenn es für Journalisten brenzlig wird. Dann werden ihre Arbeitsbedingungen plötzlich zum Gradmesser für die Entwicklung eines Landes. 


Jörg Winter, Leiter des Auslandsbüros in Istanbul, ist vorsichtig. Keine Zitate ohne Autorisierung, er will ­aufpassen. "Zum Jahresende müssen wir drei Beiträge beim Presse­informationsamt abgeben, damit die Pressekarten und unsere Aufenthaltsgenehmigungen verlängert werden." Das diene aber nur der Überprüfung, wer tatsächlich Journalist sei – was trotzdem neu für Winter ist, der von 2011 bis 2014 Korres­pondent in Peking gewesen war, wo das nicht verlangt wurde. Dafür war er dort einmal festgenommen und zweimal zum Verhör bestellt worden. "China ist ein Polizeistaat, die Türkei ist davon noch entfernt."

Bislang konnte Winter uneingeschränkt berichten



Bis jetzt habe er über die von vielen kritisierte fortschreitende Erosion des türkischen Rechtsstaates uneingeschränkt berichten können. "Zum Beispiel über die Flut an Beleidigungsklagen, mit denen Präsident Erdogan Journalisten überzieht. Eingeschränkt wird die Berichterstattung aber im Südosten des Landes beim Konflikt zwischen der türkischen Staatsmacht und der kurdischen Terrororganisation PKK. Hier bekommen wir meist keinen direkten Zutritt zu den Kampfzonen." Auch westliche Journalisten, die PKK-Kämpfer interviewen, können Probleme bekommen. "Die Gefahr besteht, dass man dann als Sympathisant von Terroristen beschuldigt werden könnte." 


Das Stürmen der "Zaman"-Redaktion sei "völlig inakzeptabel und eines Rechtsstaates unwürdig", sagt Winter. Zugleich dürfe man nicht vergessen, dass es sich dabei um keine Bastion des unabhängigen Journalismus gehandelt habe: Bis vor kurzem diffamierte Zaman noch Gegner der regierenden AKP. Erst als es zum Bruch zwischen Präsident Recep Erdogan und dem Prediger Fethullah Gülen kam, dem ein Naheverhältnis zu der Zeitung  nachgesagt worden war, geriet das Blatt auf die Abschussliste.

Journalisten werden festgenommen



"Wirklich verstörend ist der Fall der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet", sagt Winter. Nachdem diese über angebliche Waffenlieferungen des Geheimdienstes an vermeintlich radikal-islamische Rebellen in Syrien berichtet hatte, meinte Erdogan, Chefredakteur Can Dündar und dessen Kollege Erdem Gül müssten dafür bezahlen. Sie wurden festgenommen, die Staatsanwaltschaft forderte ­lebenslange Haft. Als das oberste ­Gericht die U-Haft aufhob, sagte Erdogan, dass er das Urteil nicht akzeptieren werde. Derzeit warten die Journalisten auf ihren Prozess.

Objektive Stimmen verlagern sich ins Netz



Während die Türkei wegen des Flüchtlingsdeals mit der EU an Gewicht gewinnt, wird die Gangart gegen Medien härter. Die meisten TV-Sender sind unkritisch gegenüber der Regierung, manche völlig gleichgeschaltet. In Printmedien gebe es noch objektiven Journalismus, sagt Winter, aber auch hier werde es schwieriger. Immer mehr Journalisten verlieren in "Umstrukturierungen" ihre Jobs. Derweil verlagern sich objektive Stimmen in die sozialen Medien oder das Internet. "Die Existenz vieler Kollegen ist bedroht", sagt Winter. "Fast zynisch mutet da die Aussage von Präsident Erdogan an, dass Journalisten nirgendwo freier seien als in der Türkei."
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