WAZ-Chef formuliert "8 gute Vorsätze" für Qualitätsmedien - Die Rede im Wortlaut
"Auch wenn die großen Ideale an den Menschen scheitern - Medien, die den Menschen nicht dienen, dienen zu nicht" - mit diesen Worten formuliert WAZ-Chef Bodo Hombach seine Anforderungen an Qualitätsmedien:
3. Qualitätsmedien kontrollieren die Macht
4. Qualitätsmedien klären auf
5. Qualitätsmedien bieten Orientierung in einer unübersichtlichen Welt
6. Qualitätsmedien setzen auf Diskurs und Dialog
7. Qualitätsmedien üben sich in sensibler Selbstkontrolle
8. Qualitätsmedien sind mehr wert als sie kosten
"Tollkühn wäre es, in einer unübersichtlichen Welt auf eine verantwortliche und kompetente Presse zu verzichten. Es gehörte sehr, sehr viel mut dazu, die Folgeschäden auszuhalten".
Die ganze Rede von Bodo Hombach lesen Sie hier:
Meine Damen und Herren,
Ihnen danke ich herzlich für die Ehre des mir vorgegebenen Themas: „Mut zur Qualität“. Man fragte ein altes Ehepaar, wie sie es geschafft hätten, einander so lange treu zu sein, ohne Langeweile.
Sie lächelten durch das Gitter ihrer Falten.
Der Mann sagt: „Es war nicht so schwierig. Wir haben da ein Ritual. Jede Woche gehen wir in das kleine Restaurant, wo wir uns unsere Liebe gestanden haben. Wir essen unser Lieblingsgericht und trinken ein feines Glas Wein. – Ich dienstags und sie am Donnerstag.“
Ich glaube an stabile Beziehungen: auch zwischen Medien und Nutzern. Sie gründen auf Vertrauen. Sie bleiben vital durch eine kleine Prise Understatement und Überraschung gegen Routine und Langeweile. Alles zusammen nenne ich „Qualität“.
Aber Mut? Was ist und zu welchem Ende braucht man Mut in diesem Zusammenhang?
Im Fragebogen für Prominente fragt eine deutsche Wochenzeitung auch nach Helden und Vorbildern für die Gegenwart.
Die Befragten entschieden sich zumeist für Mutter Teresa, Nelson Mandela oder Martin Luther King. Einer fiel aus der Rolle. Er antwortete: „Die wirklichen Helden unserer Tage sind alte Frauen, die versuchen, eine belebte Straße zu überqueren.“ Das scheint mehr als ein beifallheischender Gag.
Leben wir inmitten gefährlicher Systeme? Braucht es Mut, das Normale und Alltägliche zu tun? Ist „menschliches Versagen“ (es heißt so, weil es menschlich ist) nicht mehr möglich, weil darauf – z. B. im Straßenverkehr – die Todesstrafe steht? Muss ein Manager im Großsystem ökonomische Bedenken niederkämpfen, wenn er gegen den Zwang zur Quantität auch Qualität einfordert? Braucht das Normale Bekennertum?
Jeder erlebt: Primärerfahrungen schwinden. Sekundärerfahrungen nehmen zu. Un- ser Dasein wird wesentlich von Medien mitbestimmt. Also hängt die Qualität unseres Daseins von der Qualität der Medien ab. Im Privatbereich ist das Chance und Gefahr fürs persönliche Schicksal. Im öffentlichen Bereich ist es Chance und Gefahr für Staat und Gesellschaft.
Medien haben eine weitreichende Definitionsmacht über die Wirklichkeit. Sie können sie abbilden, aber auch verzerren.
Ein Zitat aus der Süddeutschen Zeitung: „Die medialen Schemata kreuzfideler Simplifizierung leiten zunehmend auch das Verhalten im Alltag. Sie sind Alltag. Leben als Seifenoper.“ Qualitative Presse muss realitätssüchtig sein.
Hegel pries die Zeitungslektüre als „realistischen Morgensegen“. Er hat immer noch Recht, denn sie nötigt das System zur Transparenz und Anpassung an informierte und sich formierende Bürger. Deren Unterhaltungsbedürfnis ernährt sich selbst.
Mächtige, die auf „Brot und Spiele“ setzen, wollen alleine bleiben. Für sie ist bürger- schaftliche Mitwirkung Störfaktor. „Ist die Moderne an sich selbst dumm geworden oder an schlechter gewordenen Zeitungen?“, fragte Giovanni di Lorenzo, ein Buch vom altersskeptischen Habermas besprechend. Der sieht die Substanz unserer Demokratie erodieren, den öffentlichen Diskurs verflachen. Ohne „Leitmedien“ ginge nichts, auch nicht die Kontrolle der Politik.
Die alte Frau steht am Straßenrand. Vor ihrem langsamen, vielleicht kurzsichtigen Blick rasen Fahrzeuge vorbei: Abgesandte einer fremden, gefährlichen Welt. Die stählernen Kisten anonymisieren die Fahrer. Sie folgen dem Herdentrieb. Einige frönen ihrer Eitelkeit oder Aggression mittels Karosserie und Kühlergrill.
Die Frau braucht Mut, den ersten Schritt zu tun. Vielleicht wird sie ihn gleich wagen, aber die Straße ist breit. Wir wünschen ihr, dass sie heil ankommt. Das aber wäre zynisch, wenn wir nicht bereit wären, unsererseits Mut für das ganz Normale aufzubringen. Für Medienmacher heißt das – wie mein Thema: Mut zur Qualität!
Ich nehme den Begriff „Mut“ als hochgestimmte Lust an der Herausforderung. Das hat etwas von Ritter und Abenteuer. Da geht es tapfer auf die Drachen los. Die Jungfrau „Qualität“ soll aus Umstrickungen befreit werden. Meinetwegen mit Hilfe guter Zwerge und Geister.
Weniger poetisch: Ich will der alten Frau über die Straße helfen.
Acht gute Vorsätze will ich nennen:
1. Qualitätsmedien bekennen sich zu den Leuten: die uns lesen, sehen oder hören, unsere Apps bedienen oder sich auf die Hohe See des Internets wagen.
Man kann viel von ihnen lernen. Sie sind uns nah und fern zugleich, manchmal stark und klug, oft auch verletzlich, umständlich, verwirrt. Andere sind pfiffig und rührig, zuweilen ätzend und unverschämt.
Viele werden herumgestoßen von der Politik, von mächtigen Interessengruppen, von Ideologen, die auf sie einreden. Andere haben sich wählen lassen, wollen Gutes bewirken. Manche verzetteln sich im Verhau der Parteiräson. Wieder andere möchten schöne Kernkraftwerke bauen und verstehen nun die Welt nicht mehr. (Ihr Österreicher fragt Euch, warum die Deutschen erst jetzt zweifeln.) Andere hingen schnurrend am Heißluftballon ihrer Anlagestrategien. Plötzlich war das nur noch eine Blase heißer Luft.
Vielleicht kostet es Mut: Aber ein Medienmensch, der die Menschen nicht spannend findet, der sie nicht kennen will mit ihren Möglichkeiten und Macken, mit ihren Ge- schichten und Spleens, der nicht die Geduld hat, ihnen zuzuhören – wer kein Herz hat für den Rummelplatz der Welt, vom Riesenrad über die Geisterbahn bis zum „grünen Prater“ der Jogger und Spaziergänger, der kann zum Teufel gehen. Der hat in der Branche nichts zu suchen, denn er hat dort nichts verloren.
Ein notorischer Idealist wie Friedrich Schiller bekannte einmal: „Je älter ich werde, desto kürzer wird meine Liste der Verbrecher und desto länger meine Liste der Toren.“
Hätte Schiller bei Facebook oder Twitter eingestellt: „Alle Menschen werden Brü- der!“? Die Möglichkeiten des Internets sind nicht das letzte Wort für zwischenmenschliche Beziehungen. Welchen Wert hat eine Beziehung, die man per Maus- klick begründen kann?
2. Qualitätsmedien schwimmen gegen den Strom.
Sie überqueren die Straße an ihrer belebtesten Stelle. Der Zeitgeist erwartet Breite und Tempo. Breite macht es schnell flach, und Tempo heißt meist flüchtig. Qualität ist Tiefe und Reflexion.
Wer nur ökonomisiert, verengt den Blick auf Schießschartenformat. Nichts gegen Ökonomie. Sie schafft den Mehrwert, der Voraussetzung des Verteilens ist. Aber sie soll dort entscheiden, wo sie die Regeln kennt und wo diese Geltung haben. Die Welt hat viele Geschäftsmodelle, sie selbst ist keins. „Gott verdient bei der Sache nicht einen Cent“, meinte Henry Miller. (Bibelfeste bedienen sich bei Mt. 9, 10.8: „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.“)
Man kann die Quantität erreichen, ohne sich ihr zu unterwerfen. Man kann Qualität liefern, ohne sich in die Schmollecke kleiner Zielgruppen zurückzuziehen. Dafür die richtige Formel zu finden, erfordert Fantasie. Trotz ungünstiger Prognosen beim An- zeigengeschäft, trotz wachsender Schreib- und Leseschwäche unserer Zivilisation – gegen schnelle Panikmacher durchzukommen, braucht Mut. Aber auch Unternehmer, die hinter den Wänden neue Räume wittern und – gegen alle Melancholie – Hammer und Meißel ansetzen.
In einer sich differenzierenden Medienlandschaft ist Aufmerksamkeit ein begehrtes Gut. Die Iässt sich durch Dramatisierung und Zuspitzung leichter erzielen.
Qualitätsmedien widersetzen sich dem Trend zur Ereignisdemokratie. Sie wollen keine Inszenierungen, wo es um Inhalte geht. Sie wollen nicht nur Köpfe, sondern auch Themen. Sie sammeln nicht nur Torszenen, sondern zeigen das ganze Spiel.
Demokratische Politik ist langsam. Sie ist ein mühseliger Prozess von Meinungsbil- dung und Interessenausgleich. Das gefährdet den „Triumph des Augenblicks“: Der „Glanz der Dauerhaftigkeit“ wird selten.
Qualitätsmedien widersetzen sich dem Anpassungsdruck übereiliger, vordergründig einflussheischender Konkurrenz. Sie sind es sich und ihren Konsumenten wert. Ich verkenne nicht, dass hier Mut vonnöten ist. Man gewinnt Freunde, aber man macht sich Gegner. Wer gegen den Strom schwimmt, wirkt auf manche nicht gefährdet, sondern gefährlich.
3. Qualitätsmedien kontrollieren die Macht.
„Im Anfang war die Presse und dann erschien die Welt“, sagte Karl Kraus. Ganz si- cher die Welt der Demokratie. Journalisten als Rechercheure und Berichterstatter, Redakteure, Kommentatoren, Moderatoren, Kritiker und Verlagshäuser mit Standvermögen dienen der Demokratie. Qualitative Presse ist eine Errungenschaft der politischen Kultur. Es brauchte lange Zeit und qualvolle Kämpfe, bis die Mächtigen bereit waren, sich und ihren Völkern diese Errungenschaft zu gönnen.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht stellte in zahlreichen Urteilen klar: „Die ge- samtstaatliche Meinungs- und Willensbildung vollzieht sich vom Souverän in Richtung auf die Staatsorgane hin und nicht in umgekehrter Richtung.“ – Wer das so deutlich betont, weiß, dass es nötig ist. Trotz Gewaltenteilung: Ohne Kontrolle durch die von Medien hergestellte Öffentlichkeit wäre die politische Klasse rasch am Ende.
Mit sich selbst allein würde sie wieder in ihre alten Fallen laufen: Die Falle der Macht als Selbstzweck, die Falle der schrecklichen Einfachheiten und damit die Falle schleichender Wirklichkeitsverluste.
Heute heißt der „Kategorische Imperativ“ des Handelns: „WAS IST, WENN ES RAUSKOMMT?“ Demokratie steht und fällt damit, dass möglichst viel „rauskommt“.
Ich bin zuversichtlich. So lange es Qualitätspresse gibt, ist die Kontrolle der Mächtigen nicht so schwierig. Das belegen Affären der vergangenen Jahre in reichem Maße. In einer Art Freud’schem Todestrieb scheinen gefährdete Protagonisten unterbewusst zu hoffen, beim Missbrauch ihres Amtes erwischt zu werden. Sonst würden sie nicht so viele Spuren legen.
4. Qualitätsmedien klären auf.
Wir neigen dazu, den kritischen Blick meist nur auf Politik und Wirtschaft zu richten. Aufklärung geht weiter. Sie ist – nach Kant – noch immer der Auszug des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Qualitätsmedien wollen deshalb nach dem alten Wanderlied „fragen, woher der Sturmwind braust und schauen, was hinter den Bergen haust“. Es ist ihr Existenzgrund, so viel Öffentlichkeit wie möglich zu erzeugen.
Es gilt auch, die Strömungsbilder im Ideenhaushalt der Gesellschaft zu entdecken, Alternativen zu suchen, Kritik und Gegenkritik zu pflegen. Sie sind der Zweifel in je- dem Glauben. Sie schlagen Lärm, wenn sich Stille ausbreitet. Sie stellen die ungehörigen Fragen, bohren tiefer, blicken weiter und trommeln – wie Oskar Matzerath in Grass’ „Blechtrommel“ – die Marschierer aus dem Takt.
Ihre Legitimation Ieitet sich nicht nur aus der Informations- und Meinungsfreiheit ab, sondern auch daraus, dass die Herstellung von Öffentlichkeit, Information und Diskussion die Grundlage für jede Kultur darstellt. Mut zur Qualität heißt Bereitschaft, bestehende Spielräume zu nutzen. Schon wer sie nicht nutzt, gibt sie auf.
Ratio-orientierte Meinungsbildung der Bürger braucht Qualitätspresse. Politischer Verstand ist kein Erbstück kluger Eltern, sondern will und muss immer wieder neu geweckt werden. Wie ein Muskel baut er ab, wenn man ihn nicht fordert, fördert und beweglich hält. Was Entscheidungsträger auf allen Ebenen ungern glauben: Er ist vorhanden. Was der demonstrierende und auflaufende Bürger ungern glaubt: Es gibt ihn aber auch in den Verwaltungen und Parlamenten. Öffentlichen Verstand hüben und drüben nicht abzurufen, wäre Vergeudung wichtiger Ressourcen.
Es wäre Verzicht auf erneuerbare Energie.
5. Qualitätsmedien bieten Orientierung in einer unübersichtlichen Welt.
An Informationsvielfalt herrscht kein Mangel. An Lotsen durch die Nachrichtenflut schon. Orientierungsmedien sind gesucht. Habermas warnt: Demokratie dürfe sich bei Medien kein Marktversagen leisten. Informationswissen ist ein Wissen über Fak- ten. Orientierungswissen basiert auf Werten, Gründen und Zielen.
Manche Journalisten sind flinke Buchstabenzüchter, Textverarbeiter und Zeilen- schinder, sie leiden jedoch an Beziehungsschwäche zu ihren Kunden. Diese vertrau- en ihnen das Kostbarste an, das sie haben: Lebenszeit. Dafür erwarten sie mit vol- lem Recht Verbraucherschutz.
Zwischen Ereignis und medialer Umsetzung lagen früher Wochen, Tage, wenigstens eine Nacht. Etwas konnte sacken, hinterfragt, eingeordnet, bewertet werden, bevor es am Morgen in der Zeitung stand. Satellit und Internet lassen diesen Abstand gegen Null schrumpfen. Die medial vermittelte Wirklichkeit ist inzwischen chaotischer als die Lebenswirklichkeit selbst.
Qualitätsmedien suchen nach den hintergründigen Mustern und Zusammenhängen im Chaos der Ereignisse. Suchen heißt nicht herumstochern. Deshalb haben sie Kriterien, nach denen sie eine Auswahl treffen. Diese sind überprüfbar und liegen offen. So reduzieren sie die Komplexität der öffentlichen Wahrnehmung und erhöhen die Komplexität des öffentlichen Handelns. Auch hier gehört dem Mutigen die Welt, aber nur, wenn er auch weise ist.
Ich will gestehen: „Pfeifenbläser“ als moderne Tugendträger lösen bei mir gespaltene Gefühle aus. Die deutsche Geschichte von ?33 bis ?45 – auch die von ?45 bis ?90 im Osten – rückt den Denunzianten für mich in fragwürdiges Licht.
6. Qualitätsmedien setzen auf Diskurs und Dialog.
Gerade erleben wir eine erstaunliche Bewegung von der Institutionen-Demokratie zur Bürgergesellschaft. Viele Gruppen widmen sich konkreten Problemen, die sie aus eigener Erfahrung kennen. Sie solidarisieren sich mit anderen, bündeln ihre Kräfte. „Alleinvertretungsanspruch“ von Kirchen, Gewerkschaften oder Parteien wollen sie nicht. Sie benutzen Medien mit Selbstverständlichkeit und Kompetenz. Hier entsteht demokratiepoIitisches Potential durch rasche Vernetzung, Transparenz, Effizienz und Bürgernähe.
Qualitätsmedien begleiten und fördern das öffentliche Selbstgespräch der Gesellschaft. Sie befeuern und bereichern es durch realitätsnahe Beiträge. Damit verhindern sie auch eine Diktatur der 51 über die 49. Die offene und dialogfähige Gesell- schaft lässt jeden Lebensentwurf zu, solange er nicht die Freiheit der anderen beengt.
7. Qualitätsmedien üben sich in sensibler Selbstkontrolle.
Durch technische Möglichkeiten haben sie einen früher nicht denkbaren Grad von Allgegenwart erreicht. Mehr denn je spiegeln sie nicht nur die Gesellschaft, sondern wirken auch auf deren Verhältnisse ein. Das bedeutet einen Einflusszuwachs, dem Verantwortung und Selbstkontrolle entsprechen müssen. Sie sind also ihr eigenes Thema. Qualitätsmedien machen ein Angebot, das die Spreu vom Weizen trennt und Maßstäbe übt. Das wird das Entstehen von Spreu nicht verhindern. Schon Goethe wusste: „Die Flöhe und die Wanzen / gehören mit zum Ganzen.“ Wir hätten es uns anzukreiden, wenn es kein Streben nach besseren Alternativen gäbe. Gute Beispiele verderben schlechte Sitten.
In den Medien gibt es zu oft einen strukturellen und habituellen Zynismus, der mora- lische Verpflichtung in eigener Sache verwirft. Der Journalist entfremdet sich damit von seinem ureigensten Geschäft, nämlich der Kritik, wenn Maßstäbe der Selbstkritik verloren gehen.
Qualitätsmedien wissen, dass nur eine Gemeinwohlbindung das Legitimationsdefizit journalistischen Handelns verringern kann. Eine Selbstverständlichkeit, die aber Mut erfordert. Fröhlichen Mut in großer Gelassenheit.
8. Qualitätsmedien sind mehr wert als sie kosten.
Längst denken einige: Wie soll sich guter Wille denn rechnen? Qualität kostet Geld. Wäre sie ein profitables leichtes Geschäftsmodell, wären alle dabei. Anzeigenmärkte sind unberechenbar. Moderate Abo-Preiserhöhungen gehen durch.
Die anschwellende Konkurrenz des Internets verführt Verlagsmanager dazu, ihre noch unrentablen Onlinebabys zu früh zu hätscheln. Die stolzen Eltern der New York Times jubeln, dass die im März geborene „Bezahlschranke“ ihnen schon 224.000 digitale Abonnenten für je 20 Dollar im Monat gebracht hat. Aber Print ist keine aus- sterbende Gattung, die man vergessen kann.
Aus Amerika kommen auch unerwartete Signale. Medienforscher weisen nach, dass Werbung in vertrauenswürdigen Blättern profitiert, weil sie dort deutlich besser wirkt. Qualität schafft Vertrauen. Werbung kann sich das ausleihen. Markenartikler brau- chen Vertrauen.
Man hört von anderen Wissenschaftlern, dass 27 amerikanische Tageszeitungen durch verbesserte Qualität einen Auflagenzuwachs erleben. 98 Vergleichszeitungen schmierten ab. – In Deutschland hat z.B. „Die Zeit“ Auflagenzuwächse.
Natürlich gibt es in Verlagen und Sendeanstalten sinnvolle Sparpotenziale. Moderne Formen der Zusammenarbeit in und zwischen den Häusern verzichten auf Doppel- und Dreifacharbeit. Sparstrategien und Qualitätssteigerung sind keine Gegensätze, wohl aber Qualität und Denkblockaden. Erfolg wird nicht herbei- oder davongeredet. Ihn erzeugt das Produkt. Qualitätsmedien haben einen Wettbewerbsvorteil. Sie setzen auf Glaubwürdigkeit. Diese Eigenschaft ist ihr Alleinstellungsmerkmal. Sie ist kostbar, weil selten. Nach schweren Einbrüchen der letzten Jahre ist Glaubwürdigkeit ein Lernziel – alle Großgruppen der Gesellschaft – Parteien, Gewerkschaften, Kirchen – büffeln das im Nachhilfeunterricht. Gute Noten in den diversen Fächern sind wichtig. Kopfnoten erleben eine Renaissance.
Der Gesetzgeber ist gefordert. Noch immer werden in Deutschland Kooperationsmo- delle behindert, obwohl sie die Meinungspluralität nicht gefährden. Dem naturwüchsigen Internet stehen die Parlamente zögernd bis hilflos gegenüber. Ihre alten medienpolitischen Lösungen passen nicht mehr zum neuen Problem. Das Web weigert sich, die alten Klamotten aufzutragen.
Mut zur Qualität. Wir erleben gerade die Ambivalenz dieses Begriffes: Wer nach Fukushima noch immer fröhlich drauflos Kernkraftwerke baut, ist der mutig oder übermütig? Wer nach Stuttgart 21 noch immer meint, Großprojekte im Hinterzimmer be- schließen oder rein nach bürokratischen Abläufen durchsetzen zu können, ist der nicht ein seltsamer Draufgänger? Wer nach Rupert Murdochs Lauschangriffen noch immer glaubt, auf ethische Mindeststandards verzichten zu können, der spielt toll- kühn mit den Zukunftschancen seiner Produkte und Mitarbeiter.
Und wer noch immer glaubt, die Schuldenkrise Europas und der USA mit ein paar Ereigniskärtchen auf dem Monopoly-Parcours regeln zu können, ist nicht mutig sondern blind. Ihm wird die Zukunft um die Ohren fliegen. Tollkühnheit wäre es, in einer unübersichtlichen Welt auf eine verantwortliche und kompetente Presse zu verzichten. Es gehörte sehr, sehr viel Mut dazu, die Folgeschäden auszuhalten.
Meine Damen und Herren,
nach meinem Beitrag wird der Alfred-Worm-Preis für investigativen Journalismus vergeben. Alfred Worm hat unnachgiebig in die Dunkelzonen der Macht geleuchtet und einer ganzen Generation junger Journalisten Maßstab und Auftrieb gegeben.
Eine bessere Unterfütterung für meine Ausführungen kann ich mir nicht wünschen.
Die Straße überqueren. – Das Deutsche Fernsehen zeigte es:
Da steht ein Mann am Rand der Place de la Concorde in Paris: Ulrich Wickert, der langjährige Moderator der Tagesthemen.
Er hat die Hände in den Taschen, pfeift leise vor sich hin und lächelt entspannt. Viel- leicht ist ihm gerade ein gutes Interview gelungen. Vielleicht hat er Feierabend und freut sich auf die kleine Wohnung unterm Dach. Vielleicht ist er auf dem Weg in sein Lieblingsbistro oder zum Rendezvous. Aber nun – hier stockte einem der Atem – schickt er sich an, die Straße zu überqueren. Nicht an der Ampel, sondern einfach drauflos, quer zur Fließrichtung des Verkehrs.
Und welch ein Verkehr! – Es ist Rush Hour, der Höhepunkt des täglichen Wahnsinns. Eine lärmende Blechlawine quirlt um den Platz. Peugeots, Renaults und Citroens jagen sich in Zehnerreihen. Sie stürzen sich in jede Lücke, kämpfen um jeden Meter. „Survival of the fittest“. Es herrscht Anarchie. Nicht weit davon ein paar deutsche Touristen. Auch die wollen rüber. Sie warten auf eine Lücke. Aussichtslos. Einzelne werden leichtsinnig, machen tollkühne Versuche, stehen für Sekunden zwischen den Karosserien, springen hin und her, um auszuweichen und retten sich mit einem Sprung zurück auf das Trottoir.
Nun dieser Mann. Man traut seinen Augen nicht. Energischen Schrittes betritt er das gefährliche Terrain. Offenbar ein Selbstmörder, schaut nicht links, nicht rechts, geht geradeaus, unbeirrt, lächelnd und verletzlich, aber in der ganzen Souveränität des Kenners und Genießers. Er hat ein Ziel und geht darauf los – nach dem Motto: Wer nie sein Leben riskiert, der hat es schon verloren. Hindernisse scheinen ihn nicht zu irritieren. Gefahren machen ihn erst richtig munter. Das Leben ist kurz, die Welt ist rund, und so genießt er beides in vollen Zügen, inmitten der PS-Bestien des Abendverkehrs.
Und siehe da: Bremslichter ringsum. Die Angreifer erschrecken. Das Blechmeer teilt sich. Es lässt ihn durch wie das Rote Meer Moses. Da er sich nicht fürchtet, kann ihn niemand bedrohen. Unbeirrt geht er seinen Weg, geradeaus, noch zwanzig Schritte, zehn, fünf. Er erreicht das Ufer, schreitet weiter, als ob nichts wäre.
Toll! – Solche Leute kann die Welt gebrauchen – und noch viele davon. Leute, die dem Chaos Achtung abnötigen, weil sie ein Ziel haben. Menschen, die sich nicht im kleinteiligen Vordergrund verheddern, weil sie Weitblick haben. Männer und Frauen, die sich nicht nur fragen: „Wo stehen wir?“, sondern: „Wo wollen wir hin?“. Ohne Angst, vielleicht, weil sie die tieferen Regeln des Spiels kennen. So wie der Dompteur im Zirkus die Zeichen seiner Löwen und Tiger versteht. Und so weiß er, was er ihnen abverlangen und wie weit er gehen darf.
Ulrich Wickert wusste: Auf der Place de la Concorde fährt man nicht nach Verkehrsschildern und Regeln. Angepasst an wechselnde Situationen kommt man voran.
Die alte Frau steht noch immer am Straßenrand. Wir fragen sie, warum sie nicht los- marschiert. Sie schüttelt erschrocken den Kopf, denn sie weiß: Einer heranrasenden Tonne Stahl hat sie nichts entgegenzusetzen. Vielleicht gibt sie auf. Sie ist keine Heldin. Sie braucht ihren ganzen Mut für die Beschwernisse des Alters, für den Kampf mit Behörden und Ticket-Automaten, für die vielen Abschiede, die das Alter so mit sich bringt. Vielleicht dreht sie sich gleich um und verzichtet auf ihr Ziel. Vielleicht ist sie ja schon auf dieser Straßenseite geboren...
Ich schreibe ins Gästebuch:
Auch wenn die großen Ideale an den Menschen scheitern – Medien, die den Menschen nicht dienen, dienen zu nichts.
Ich danke Ihnen.