Kommentar von Doris Raßhofer
Was tut man, wenn man bei irgendwem eine tolle Musik gehört hat? SMS schicken: „Was war das für eine Musik gestern Abend bei Dir?“ Dann rein in YouTube, nachschauen, ob richtig und ob noch mehr davon da ist. Und dann? Dann scheiden sich die Geister: Im Rahmen der heutigen technischen digitalen Möglichkeiten ist für die einen das normalste auf der Welt, zurückzuschreiben „Send me“ – rauf damit auf den iPod, und geht schon. Gratis, versteht sich. Denn alles, was möglich ist, wird auch gemacht. Ist cool. Und selbstverständlich. Understatement.
Der andere, vermutlich kleinere Teil, verfügt vielleicht über denselben Bereicherungsreflex, überwindet aber eine bestimmte Instanz nicht recht, die da sagt: Hallo, das sind Musiker, die hier ihre ganze Leidenschaft und ihr Können in die Komposition dieses Albums gesteckt haben. Und vermutlich wollen sie auch davon leben. Sie bereichern mit ihrem Talent dein Leben. Warum also nicht ihr Leben mit deinem Obolus bereichern? Sprich: zahlen.
Komfort als Mittel gegen Diebstahl Die besagten technischen Möglichkeiten erlauben uns heute, uns aller und jeder zu bemächten und zu bedienen. Wir können kopieren, rauben, ausspähen, vernadern, bescheißen, uns bereichern, manipulieren, spammen … Die Antwort der Wirtschaft und Industrie auf die selbstgeschaffenen Möglichkeiten? Ein Wettrüsten, Gleiches mit Gleichem bekämpfen. Noch mehr Sicherheitsserver, noch mehr Firewalls, noch mehr Gesetze, noch mehr Drohungen, noch mehr Sperren.
Die Musikindustrie wäre an den „technischen Möglichkeiten“ beinahe zugrundegegangen – wenn da nicht plötzlich iTunes aufgetaucht wäre und das Bezahlen so einfach war, dass wir inzwischen lieber schnell auf „buy“ klicken, als hier ewig rumzukopieren. Convenience war hier die „Killerapplikation“. Leider ist eine solche Killerapp noch nicht für alle Bereiche gefunden, um die egomanische Selbstbereicherung auf Kosten anderer auszuhebeln. Nicht in der Politik, nicht in der Wirtschaft, nicht im Privaten. Es gilt leider immer noch als cool, wenn man es geschafft hat, sich gewitzt irgendwo einen Vorteil zu erhaschen. Die, die immer brav zahlen, sind doch die Blöden, die Spießer, die Langweiler, die Angepassten. Als wäre es eine Art inoffizieller Volkssport, wer schafft, sich am meisten zu ergattern. Dementsprechend werden die kleinen und großen Erfolge auch mit stolzgeschwellter Brust in illustren Runden herausposaunt.
Wie sagte Gunter Dueck im letzten Bestseller-Interview? „Wir lassen uns bei der Bahn am Schalter beraten und kaufen dann das Ticket am Automaten, damit wir uns die fünf Euro Beratungsgebühr sparen. Und beschweren uns dann, wenn die Bahn die Berater wegrationalisiert, weil sie keinen Umsatz erwirtschaften.“ Wir wissen, dass wir mit diesen kleinen Gaunereien einen großen Teil Mitschuld an jedem verlorenen Arbeitsplatz tragen. Und, nein, wir wollen nicht zahlen, um uns Zugang zu interessanten Informationen im Web zu erkaufen, wir wollen schauen, ob wir das Gleiche woanders nicht doch gratis kriegen, oder zumindest billiger. Es gibt aber nix gratis auf dieser Welt, außer, ein anderer zahlt die Zeche.
Mehr Werbung für mehr Haltung! Gegen dieses menschliche Schlawinertum dürften aber keine Regeln und Paragraphen helfen. Unsere Herausgeberin Dagmar Lang bringt das im nächsten Bestseller in ihrer Geschichte über Compliance-Regeln und deren Aberwitzigkeit gut zum Ausdruck: Moral lässt sich nicht in Paragraphen zwängen. Eben. Aber warum investieren wir dann werblich nicht mehr in diese moralische Instanz, für ein anderes Understatement? Für Haltung? So wie „Oida, trenn!“ Nicht Bereicherung ist cool, sondern Wertschätzung der Leistung anderer! Denn: Es ist nicht alles gut, nur weil es möglich ist.