Wir laufen immer schneller – aber wohin?
 

Wir laufen immer schneller – aber wohin?

Kolumne von Walter Braun

Haben Sie schon von der jüngsten, aus Russland kommenden Droge genannt Krokodil gehört? Ähnlich dem berüchtigten Crystal Meth frisst das Zeugs die Nutzer bei lebendigem Leib auf. Gleichzeitig häufen sich Berichte von Süchten aller Art, natürlich Alkoholismus (der nun, gleichberechtigt, auch bei Frauen häufig geworden ist), von massivem Medikamentenmissbrauch, von Sexsucht, Esssucht, Einkaufssucht, Arbeitssucht, Spielsucht, Handysucht … Sind wir alle durchgeknallt?

Bei der ab Ende der 1970er geborenen Generation ist ein massenhafter Rückzug in private Fantasiewelten zu beobachten. Weltweit, schätzt die Forscherin Jane McGonigal, gibt es bereits 500 Millionen „Meisterspieler“, das sind jene, die mehr als 10.000 Stunden in digitalen Spielewelten verbracht haben. Sie ­prognostiziert, dass sich deren Zahl im ­kommenden Jahrzehnt verdreifachen (!) wird – ein Fünftel der Menschheit würde dann bevorzugt in Kunstwelten leben.

Warum ist Eskapismus zur seelischen Grundhaltung im beginnenden 21. Jahrhundert geworden? Ich hätte ein paar Kandidaten: I) die ständigen Elends­meldungen, die aus der ganzen Welt unablässig auf uns eintrommeln (und für die wir uns, laut diversen Humanisten, kollektiv verantwortlich fühlen sollten); II) Produkte, die psychologisch so raffiniert konstruiert sind, dass wir uns von ihnen in den Bann ziehen lassen; III) die gezielte Jagd nach unserer Aufmerk­samkeit, die Werbetreibende, Medien und die Unterhaltungsindustrie eint.
Bleiben wir beim letzten Punkt: Um ­Inhalte unwiderstehlich zu machen, dazu verleitend, sie impulsiv anzuklicken und den Link weiterzuschicken, braucht es entweder Glück oder ein ­System. Auf YouTube ergibt sich ein Hit oft ganz spontan, wenn irgendein ­närrisches Katzenvideo heraufgeladen wird. Darauf können sich kommer­zielle Verführer nicht verlassen. Ergo müssen Überschriften, Zusammen­fassungen, Auszugstexte, Bilder plus deren Unterschriften kalibriert werden, indem man an jedem Detail herumfeilt und mindestens 25 Fassungen erstellt, die testweise in den Äther hinausgejagt werden. Von Yahoo sagt man, dass es alle fünf Minuten 45.000 Kombination aus Überschrift und Bild ausprobiert. Zwecks Chancenmaximierung muss man fortwährend Masse produzieren … während ein Auge ständig auf Facebook schielt. Da jedes Onlineverhalten statistisch ausgewertet wird, nährt das noch den Zyklus: Mehr ist besser!

Das Gratis-Web kostet viel Aufmerksamkeit – doch das entdeckt man erst, wenn sie einem abhanden gekommen ist. Je mehr davon in Medien investiert wird, umso weniger verbleibt für ­private Beziehungen (vermutlich ein Grund, warum die Zahl der Singles stark zunimmt, detto Ängste und Depressionen und, wie erwähnt, Süchte). Darunter könnte sich aber eine tiefer liegende kulturelle Spannung verbergen als bloß das Gerangel von Medien und Werbung um unsere Aufmerksamkeit …
(Fortsetzung folgt.)






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