Wer wagt noch, ein Urteil zu fällen?
 

Wer wagt noch, ein Urteil zu fällen?

Kolumne von Walter Braun

Österreich wird 2014 in der Weltpresse erwähnt werden, wenn auch auf eine wenig erwünschte Weise. Das könnten wir als Anlass nutzen, uns eines Denkers aus der Zeit des Ersten Weltkrieges zu entsinnen, den wir als Korrektiv für ­unsere politisch korrekt verbogene Zeit dringend bräuchten. Nämlich Karl Kraus, den mutigen Aufklärer unhaltbarer Zustände. Dasselbe versucht der angesehene amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen („Die Korrekturen“) in seinem jüngsten Werk „The Kraus Project“, mit dem er einer englischsprachigen Leserschaft die spitze Zunge des Wiener Kritikers nahebringen möchte.

Ein Versuch für die werten Leser: Was würden Sie zu einem Werbespot sagen, der eine hippe Hochzeit zeigt, bei der sich die Jungen über ihre Smartphones krümmen und einander zu­texten? Monieren Sie in marxistischem Geist die Entfremdung im Gefolge des Techno-Kapitalismus? Oder regis­trieren Sie von einer psychologischen Warte aus die Distanz einer digitalen Wiederholung und das Vermeiden von unmittelbaren Erfahrungen? Sie könnten auch moralisch argumentieren, dass bei einer Hochzeit Braut und Bräutigam im Mittelpunkt stehen und emotionale Abreaktionen der Gäste ­keinen Stellenwert haben. Ferner drängt sich ein ästhetischer Standpunkt auf: grässlich! Und man könnte philosophisch einwerfen: Technische Kompetenz ist nicht dasselbe wie menschlicher Geist.

Doch keiner der genannten Standpunkte ist zulässig, weil implizit eine Bewertung enthaltend. Wir leben in einer wertefreien Zone, in der Beurteilungen als unerträglich gelten. Allgemein akzeptierte Werte sind einerseits auf ein rein äußerliches, rechtliches Regelwerk eingedampft worden und andererseits auf den Status von Konsumvorlieben abgesunken. Wenn man heute einen Studenten auf unausgewogenes Denken hin kritisiert, kommt spontan die Reaktion: „Who are you to judge?“

Gut und schlecht, nützlich und ­nutzlos gelten dem vorherrschenden Gleichheits-Faschismus als veraltete Kategorien. Selbst ästhetische Urteile, belehrte uns der französische Soziologe Pierre Bourdieu, riechen nach Klassengesellschaft. Nun gut, akzeptieren wir den Abfall gleichberechtigt neben Michelangelos Statue. Dann sollten wir aber auch die Ehrlichkeit haben, Müll ganz ohne Vorurteil herumliegen zu lassen. Nicht?

Heuchelei liegt wie ein zäher Hustenschleim auf den Lungen der Gesellschaft. Gutes Denken verlangt allerdings, dass wir die Dinge beim Namen nennen. Und uns freihusten. Ohne Rücksicht auf die ewig Angefressenen. Ein Mangel an (Selbst-)Kritik führt zu einem unausgewogenen Weltemp­finden. In manchen Kreisen ist es unhöflich, sich nicht in apokalyptischer ­Negativität zu ergehen, während die Liebhaber von TED-Konferenzen in ihrem Optimismus nicht gerne Kritisches hören. Wo ist der neue, ausgewogene Kraus, der „Die nächsten Tage der Menschheit“ produziert?
Lesetipp: The Fanaticism of the ­Apocalypse, von Pascal Bruckner, 2013.

[Walter Braun]
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