Was feuert den Ethiktrend an? (2)
 

Was feuert den Ethiktrend an? (2)

Kolumne von Walter Braun

Seit dem Zeitalter der Aufklärung gab es zwei Versuche, die traditionellen Wert­ethiken durch eine vernunftbestimmte Konzeption abzulösen. Kant vertraute auf Regeln (die letztlich zu den Menschenrechten führten), der Utilitarismus hingegen auf zentral organisierte Umverteilung von Gütern. Als Wege, den Staat zu organisieren, waren beide Ethiken erfolgreich. Als Basis einer privaten Moral sind beide gescheitert. Das progressive Projekt, die Menschen systematisch umzuerziehen, war und ist ein Hirngespinst. Wie es nun aussieht, hat ein wilder Kampf um moralische Autorität begonnen. Viele Menschen akzeptieren immer noch Religionen als Grundlage der Moral, viele lehnen sie allerdings ab. Europa scheint nun ein wenig von den Wurzeln seiner Tradition abgeschnitten – daher vielleicht das ­aktuelle Verlangen nach neuen Verhaltensnormen.

Auf alle Fälle sind Dispute über Werte, Lebensstilfragen und „kulturelle Bedrohungen“ immer häufiger in den Schlagzeilen zu finden. Dass die west­liche Presse sich die Finger wund schreibt, ob Putin (oder ganz Russland) schwulenfeindlich ist oder dass trans­sexuelle Ehen je zu einem Thema ­wurden, ist bezeichnend für diese Entwicklung. Vielleicht ist vor diesem Hintergrund erklärlich, warum eine Mehrheit sich in der Schweiz gegen weitere Einwanderung ausgesprochen hat – nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern aus Sorge um ihre Kultur.

Dieses Spannungsfeld wird in den Medien immer noch mit den alten Vokabeln abgearbeitet. In Wirklichkeit ist „links versus rechts“ überholt. Wenn es um Klimaveränderung oder die zunehmende Bürgerüberwachung durch neue Technologien geht, macht die alte poli­tische Leier wenig Sinn. Twitter und ­Facebook dringen weit in den Privat­bereich vor – und mit ihnen eine wachsende Bereitschaft, Denkverbote zu verhängen. Was wiederum demonstriert, wie sehr postmoderne Gesellschaften unter Vertrauensverlust leiden. Manche machen dafür starke Einwanderung und interkulturelle Sprachlosigkeit verantwortlich. Eine Gruppe von Sozial­forschern wollte das testen. Sie erstellte Modelle, in denen „Multikulti“ versus „Vertrauen“ abgebildet wurde. Ergebnis: Das geht nicht zusammen. Die Psychologen ­wollten das Ergebnis nicht ­akzeptieren. Sie ließen den Computer Millionen (!) von Szenarien durchkalkulieren – immer mit demselben Ergebnis: entweder kulturelle Heterogenität oder starker Gemeinschaftssinn (siehe „The (In)compatibility of Diversity and Sense of Community“). Aber nie beides zur gleichen Zeit. Was erklären mag, warum Nationalismus ein Comeback erlebt und warum führende Intellektuelle beklagen, ein Kulturkrieg sei ausgebrochen.

Im Gerangel um kulturelle Werte sind simple Lebensstilfragen stark politisiert worden. Ein Klima der Intoleranz ist im Entstehen. Demnächst auch bei uns?
Lesetipp: „Inventing the Individual: The Origins of Western Liberalism“ von Larry Siedentop, Verlag Allen Lane, 2014.



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