Unsere neue Renaissance
 

Unsere neue Renaissance

Kolumne von Walter Braun

Eine interessante Beobachtung kommt von zwei Oxford-Wissenschaftlern, die behaupten, unser Zeitalter weise verblüffende Parallelen zur vielgerühmten Renaissance auf. Bis ins 15. Jahrhundert entfalteten sich politische und ökonomische Veränderungen nur behäbig, als plötzlich die Reste des Spätmittelalters dramatisch weggefegt wurden. Berauschende Ideen, neue Technologien, Globalisierung und neue Handelsrouten verursachten in einem Teil der Bevölkerung eine Aufbruchsstimmung. In Venedig und Florenz entstand eine neue Schicht reicher Händler, die sich Ansehen durch Förderung der Künste erkaufte. Gleichzeitig führten Migrationsströme, eingeschleppte Krankheiten und neuer Wettbewerb sowie fallende Löhne in manchen Sektoren zu zunehmender sozialer Ungleichheit und in der Folge zu massiven gesellschaftlichen Spannungen.

Das soziale Gefüge, notierten Ian Goldin und Chris Kutarna, war „bis zum Brechen“ belastet – Proteste, Fremdenfeindlichkeit und ideologischer Extremismus waren die Reaktionen. Klingt irgendwie bekannt.
Die Buchautoren benennen drei herausragende Veränderungsfelder, zwei davon berühren die Kommunikationsbranche – neue Landkarten, neue Medien und eine neue Lebenshaltung. Was seinerzeit Print leistete, bewirkt heute das Internet. Und eine neue Weltordnung finden wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Aufstieg Chinas ebenfalls vor. Der dritte Bereich liegt aber noch im Dunkeln, nämlich die sich ändernde existenzielle Stimmung. Objektiv leben wir in der besten aller Zeiten – aber bei vielen Menschen dominieren Angstgefühle. Gerade das berührt sowohl Medien als auch Marketer, für die nicht technischer Fortschritt, sondern die innere menschliche Verfassung tonangebend ist.

Momentan gehen wir durch eine Phase der Anpassungsschmerzen. Das ist ganz normal. Zeitungskommentatoren und Politiker, die über Populismus jammern, sollten zur Abwechslung ein Geschichtsbuch zur Hand nehmen. Das Unbehagen wird vorbeigehen. Wirklich bedenklich ist aber, dass die neue Renaissance ebenso wie die erste zu Gewinnern und Verlierern führt, sowohl auf der Ebene von Individuen, als auch bei ganzen Regionen. Wie sich wappnen? (1) Forciert auf Kreativität setzen, (2) offen bleiben gegenüber neuen Ideen und (3) im Prinzip Einwanderung sowie die Entstehung neuer urbaner Zentren akzeptieren.

Während wir auf die zeitgenössischen DaVincis and Michelangelos warten, könnten wir uns an den Rat erinnern, den der beste Interpret der damaligen Unruhen gab: In Zeiten des Umbruchs, empfahl Machiavelli überraschend, sollte man sich nicht auf alte Sicherheiten zurückziehen, sondern vorwärts stürmen. Für so viel Mut braucht es aber eine positive Zukunftsvision …

Lesetipps: "Age of Discovery: Navigating the Risks and Rewards of Our New Renaissance" von Ian Goldin und Chris Kutarna, sowie "Rethink: The Surprising History of New Ideas" von Steven Poole.

[Walter Braun]
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