Ungeister aus den Untiefen des Web
 

Ungeister aus den Untiefen des Web

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Er galt als einer der begabtesten Denker des Silicon Valley, und viele halten ihn für den Vater von Virtual Reality – doch nun hat sich Jaron Lanier zu einem scharfen Kritiker gängiger Praktiken im Web gewandelt.

Er galt als einer der begabtesten Denker des Silicon Valley, und viele halten ihn für den Vater von Virtual Reality – doch nun hat sich Jaron Lanier zu einem scharfen Kritiker gängiger Praktiken im Web gewandelt. So regt ihn etwa das verbreitete Mantra „information wants to be free“ auf, da die Einstellung, im Net müsse alles gratis sein, die ökonomische Basis für Kreativität untergrabe.

2010 verspricht ein Jahr zu werden, in dem diverse Internet-Phänomene schärfer unter die Lupe genommen werden. Etwa die schleichende Abschaffung der Privatsphäre. Die Nutzer von Social-Network-Sites stellen Unmengen privater Daten ins Netz. An sich können nur „Freunde“ Zugriff auf die Profile erhalten. Aber die Networker haben nicht das Kleingedruckte gelesen: Bei Facebook enthalten die Nutzungsbestimmungen den leicht zu übersehenden Passus, dass der Anbieter sich das Recht vorbehält, Informationen über Mitglieder zu sammeln, Transaktionsdetails zu speichern und personenbezogene Daten Dritten zugänglich zu machen.


Doch die Selbstentblößungsmanie unter den Jungen ist schon viel zu weit fortgeschritten, die Angst, nicht dazuzugehören, viel größer als alle Bedenken zum Verlust der Privatsphäre. Auf den Unis werden zunehmend Veranstaltungen, Einladungen oder Partys via Facebook kundgemacht – wer nicht drinnen ist, erfährt davon nichts. Noch ungenierter ist das Angebot einer neuen Website namens Blippy, wo Bürger freiwillig ihre Einkäufe kundtun.


Dass solcherlei Verhalten der Unterwelt Tür und Tor öffnet, leuchtet ein. Potenzielle Einbrecher können aus den vielen Eigenmeldungen, die in Echtzeit (zum Beispiel via Twitter) abgegeben werden, leicht schließen, ob jemand zu Hause ist. Natürlich lassen sich diese Daten auch dazu benutzen, eine falsche Identität zusammenzustellen (dieses sogenannte „Fishing“ ist laut Cambridge-Professor Ross Anderson ein wachsender Trend in der Cyber-Kriminalität).


Jaron Lanier jedenfalls befürchtet, dass der Online-Zwang zum Kollektivverhalten einen „Bienenstock-Geist“ erzeugen könnte, dem unter dem Banner einer technologischen Utopie jede Schlechtigkeit zuzutrauen wäre. Still und leise dehnt sich eine totalitäre Ideologie aus („digitaler Maoismus“), bei der Technologie nicht länger ein Werkzeug ist, sondern zum Ziel wird. Etwa bei den Transhumanisten, zu deren Überzeugung es gehört, dass die Menschheit am besten ausstärbe, um irgendwo als digitaler Geist weiterzuleben. Ein anderer Kult wartet sehnsüchtig darauf, dass Computer Bewusstsein erlangen und die Welt übernehmen. Diese entmenschlichten Utopien passen übrigens ganz gut zum Radikal-Darwinismus, der Teile der Intelligenzia in den Bann gezogen hat.


„Wir Technologen“, kritisiert Lanier, „verzetteln uns in endlosen Ritualen, bei denen wir so tun, als wären Menschen überflüssig.“


Lesetipps: Jaron Lanier: You Are Not a Gadget: A Manifesto, Verlag Allen Lane, 2010.


Viktor Mayer-Schönberger: Delete: the Virtue of Forgetting in the Digital Age, Princeton University Press, 2009.





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