Kollektiver digitaler Realistätsverlust
 

Kollektiver digitaler Realistätsverlust

Glosse von Rainer Seebacher

Regelmäßige Besucher von Konferenzen, in denen es um die schöne neue digitale Medienwelt geht, laufen Gefahr, sich mit einer äußerst ansteckenden Krankheit zu infizieren: Realitätsverlust. Ohne jetzt einen einzelnen Event herausgreifen zu wollen: In schillernden Farben präsentieren hier oft ebenso schillernde Experten nichts Geringeres als die Zukunft. Die Prognosen fußen dabei oft auf Annahmen, die als fix angesehen werden – und diese werden auch häufig gar nicht hinterfragt. 

Ein aktuelles Beispiel gefällig? Dass Facebook von uns Erdenbürgern so ziemlich alle für die Werbewirtschaft relevanten Daten verlangt und wir diese Mark Zuckberg und seiner Social-Media-Bande auch gerne weiterhin geben, wird als „gegessen“ angesehen. Niemand stellt sich bei solchen Events die Frage, ob die Allgemeinheit nicht doch problembewusster wird, nicht doch bald eine EU-Richtlinie kommt, die Facebook und Google zu einem sorgsameren Umgang mit Nutzerdaten zwingt, oder vielleicht die soziale Vernetzung überhaupt über einen anderen Dienst läuft. 

Solchen Fragen muss man sich aber stellen, will man Prognosen abgeben, die Substanz haben. Wie das gehen kann, konnte man bei einigen– leider nicht allen – Themenstrecke nbei der SIME in Stockholm erleben: Die Vorträge über Print und Fernsehen und ihre Verlängerung ins Digitale waren äußerst inspirierend, weil (auch) kritisch. Da musste so mancher Zuhörer wohl an Vorträge auf vielen Konferenzen denken: Als da namhafte, internationale Experten vom Ende der Verlagshäuser faselten und meinten, die Blogger würden die besseren Journalisten sein. Ein völliger Blödsinn, wie sich herausgestellt hat. Mein Rat: Fahren Sie mehr U-Bahn, gehen Sie zum Wirt ums Eck oder schreiben Sie sich in einen Sportklub ein. Das hilft gegen Realitätsverlust.



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