Jenseits des HORIZONT
In deutschen Universitäten sitzen Eltern und deren – erwachsene – Kinder einträchtig nebeneinander im Hörsaal, gehen miteinander in die Mensa, testen die Qualität des Essens. Mütter und Väter kümmern sich um die Einhaltung der Inskriptionsfristen und besorgen Quellen, Lektüre, Research-Tools. Die Kinder sollen möglichst gut und rasch studieren, sprich: sich formal anerkanntes Wissen aneignen. Die Bildungselite von heute nährt die Ausbildungselite von morgen. Mama-Coaching.
Hubschraubermütter organisieren für Zwei- und Dreijährige einen Tagesablauf, der auch 25-Jährigen zu stressig erscheinen würde. Die Ritalin-Verschreibungen explodieren. Gleichzeitig steigt die Zahl der Analphabeten beängstigend rasch an, steigt die Anzahl der Menschen, die nicht nur keine Arbeit finden, sondern nicht den Funken einer Chance der Teilhabe an der Gesellschaft haben, erschreckend an. Es geht nicht mehr um Emarginierte, sondern um Ausgeschiedene, ewig Ausgeschlossene.
Die Beschwerden gegen Hartz-IV-Zahlungen nehmen in Deutschland deutlich ab: nicht, weil die Menschen genug Geld hätten, sondern weil sie weder Kraft, Lust noch Fantasie haben, sich aufzuraffen. Das ist die andere Seite. Die potenziell Aufständischen sind zu schwach, um aufzustehen. Erregung verdampft im Hartz-IV-Fernsehen.
Neoliberalismus und Sehnsucht nach dem starken Staat und Führer sind nicht mehr Widerspruch, sondern offensichtlich Bedinglichkeiten. An den Staat wird abgeschoben, was aus Hoffnungslosigkeit, verlorener Selbstständigkeit und verlerntem Zutrauen nicht selbst erledigt werden kann. Die Bahre ist der Wiege schon immanent. Die Infantilisierung einer Gesellschaft scheint nicht mehr aufzuhalten. Die Exklusionsmechanismen der Schwachen nicht. Und die neuen Herrschaftsvarianten der Starken auch nicht.
„Selfies“ nennen sich junge Menschen, die stundenlang ihr Porträt für Facebook oder andere soziale Communitys konstruieren. Es gibt genügend Tools und Hilfeseiten dafür. Mit Instagram kann man vieles anstellen – intuitiv vor allem. So entstehen selbst gewählte Identitäten, die spiegeln, was man zu sein habe. Sie haben wieder Freunde, die selbst „Selfies“ sind. Die Stars, selbst beim Fotografieren posierend, sind ihre Vorbilder. So entstehen mediale Welten, die mit erlebbaren Realitäten nicht mehr viel gemein haben. Außer, dass sie den Blick auf das Nahe verstellen. In Nordkorea wird man darauf trainiert, den anderen nicht anzuschauen, wenn er mit einem sprechen will. Es soll nicht kommuniziert werden, was nicht kommuniziert werden darf.
Die „Selfies“ schaffen es alleine. Sie sehen den anderen gar nicht mehr. Und die Hubschraubermütter detto. Auch die Caffè-Latte-Mütter mit den riesenhaften Kinderwägen, die aussehen wie Panzer ohne Motor. Und nicht die Education Parents, die in den Hörsälen sitzen und zu Hause für die Kids die Seminararbeiten schreiben oder schreiben lassen. Sie sehen nichts mehr. Die ewig Ausgeschlossenen werden mehr.
Kürzlich hat man den Wiener Stadtpark räumen lassen, weil zu viele Obdachlose auf den Parkbänken schliefen. Übrigens: Im Stadtgarten gibt es ein Toprestaurant. Zwei Welten, die einander nicht sehen dürfen.
[Jenseits des HORIZONT]