Wer die absolute Transparenz will, braucht die absolute Überwachung. Wer Sicherheit will, wer vor lauter irrationaler Angst, es könne etwas geschehen, nach mehr Schutz des Individuums ruft, wird zwangsläufig zum Apologeten der perfekten Überwachung.
Transparenz ist kein Wert an sich. Das sollten jene, die das Wort kaskadenhaft verwenden, reflektieren. Wer laufend Nacktheit verlangt, muss die Scham reglementieren. Und verachtet damit das Individuum. Reduziert es zur Ware, zum Tatbestand.
Da wird Snowden in den Himmel gehoben, profilieren sich zweitrangige Politiker, die lauthals mit Asyl kokettieren und Applaus von den Falschen erhalten.
Da werden einige öffentlich verurteilt und andere wieder freigesprochen. Auch Politiker. Recht wird als Willkürliches, gewissermaßen der neuen Transparenzmoral Nachrangiges dargestellt.
Recht hat der, der über Wissen verfügt. Der Überwacher ebenso wie der Transparenz-Schreihals.
Wo institutionelle Einrichtungen – vom Parlament bis zur Exekutive – scheinbar versagen, maßt sich die außerparlamentarische Gewalt Urteilskompetenz an.
Investigative Medien und Journalisten sind Beleg jener Verschiebung von Wertigkeiten. Vorweg: Es ist wichtig, notwendig, dass Journalismus kritisch ist, aufdeckt, Verschwiegenes öffentlich macht, wenn es im öffentlichen Interesse ist. Es ist notwendig, dass Medien Partei ergreifen, Unrecht anprangern, Fehlentwicklungen analysieren und aufgreifen. Oder selbst Initiativen ergreifen – es gehört zu ihren Aufgaben.
Aber es ist schamlos, wenn Medien plötzlich erwarten, sie könnten Recht sprechen, Richter sein, Urteile vollstrecken, Rücktritte erzwingen, willkürlich in Prozesse eingreifen.
Es war unwürdig, wie Medien mit Menschen – vom ehemaligen deutschen Bundespräsidenten über den katholischen Bischof Tebartz-van Elst bis hin zu österreichischen Provinzpolitikern – umgingen.
Wenn Medien glauben, Richter und Exekutive, Gesetzgeber und moralische Instanz in einem zu sein, verkennen sie ihre eigene Rolle. Und werden Büttel der Macht, die sie angeben, zu bekämpfen.
Wenn Boulevard und sogenannte Qualitätsmedien, gleichgültig in welchen Channels und Konstellationen, sich zu Moralhütern aufplustern und dabei nicht nur Recht sprechen, sondern auch das – von ihnen selbst einst erkämpfte – Recht des Individuums auf Schutz des Ich torpedieren, sind sie nicht Aufklärer, sondern Datenmanipulatoren. Und nicht anders als die Überwacher und Datensammler, die sie kritisieren.
Das gilt auch für Politiker, die permanente Transparenz verlangen. Angeblich zum Schutz des Bürgers und des Staates. Sie fördern damit – unbewusst und unreflektiert vielleicht, weil es an kulturellem Verständnis mangelt – jenen Überwachungs- und Verbotsstaat, den sie eigentlich ablehnen möchten. So kommt der Polizeistaat ohne Polizei. Jeder ist Polizist und Opfer.
Transparenz und Überwachungstotalismus sind Zwillinge.
[Jenseits des HORIZONT]