Jenseits des HORIZONT
Wo Einfalt herrscht, leiden Demokratie und Freiheit. Da kommt rasch der Aufruf zu Verboten. Zum Boykott. (Wenn die Einfältigen nur wüssten, woher Boykott kommt.) Seit einigen Wochen thematisieren ein Branchenmedium und ein Nachrichtenmagazin eine wenig differenzierte Debatte über Klarnamen versus Anonymität im Web. Der Inhaber einer Lobbying- und Kommunikationsagentur hat die Initiative „Die Meinungsmutigen“ begründet. Allen gemeinsam ist ein gewisses Halbverständnis des per se anarchistischen Webs. Also greifen sie zu Methoden und Argumenten, die aus einer anderen, analogen Welt stammen. Das sei ihnen unbenommen. Man muss kein Digitalist sein, sollte aber Demokrat bleiben und sich verbal nicht jenen anpassen, die seit Jahrzehnten mit der Sprache der Verbote und Taten des Ausgrenzens agieren. Ungeschliffene Faustkeule trifft auf virtuelle Bits. Da werden – von Chefredakteuren und weiteren honorigen Personen – „Entmummungsverbote“ gefordert, wird materialisch eine Klarnamenpflicht gefordert. Differenziert und kundig sind diese Debattenbeiträge nicht. Im Gegenteil, sie machen Angst. Weil sie verkürzend, scheinrational und undialektisch sind. Und sehr rasch mit der Verbotskeule agieren. Wer sich nicht deklariert, gehört gebrandmarkt. Die Initiatoren dieser Debatte sind sicherlich eifrige Handynutzer, versenden SMS und empfangen Mails – wahrscheinlich auch diskriminierende. Sie lesen Postings, als seien sie Leserbriefe und ziehen daraus ihre Schlüsse. Mit Netzverständnis und dialektischem Sich-Auseinandersetzen hat das wenig zu tun. Interaktion ist etwas anderes als simple Sender-Empfänger-Aktion und -Reaktion. Online-Prozesse im Web und soziale Interaktionen vieler sind etwas strukturell anderes als Senden und Empfangen. Das sollte man wissen, wenn man über Recht und Unrecht, Zensur und Anstand im Netz richtet, gleichzeitig vehement nach Datenschutz ruft und Big Data, wiederum semireflektierend, verurteilt, als ob man wüsste, was Algorithmen seien. Wenn sich Einfalt mit Unwissen und Reflexionsträgheit vermengt, leiden Intellekt und Empathie. Wenn aus kleinbürgerlicher Empörung ein Aufruf zum Boykott wird, tauchen Erinnerungen schattenhaft auf. Da fordert das Branchenmagazin „Kein Werbe-Euro für Hass-Postings“. Wer glaubt, diese Forderung würde ungehört verhallen, irrt: Nahezu ein Dutzend Agenturvertreter haben ihre Zustimmung, semantisch manchmal stolprig, veröffentlicht, mehr als 140 Werber sollen sich angeblich der Aktion anschließen. Vor allem eine Tageszeitung, Pionier des Onlinejournalismus in Österreich, ist Ziel der Verbalattacken. Weil man sich dort angeblich weigere, Klarnamenverdikte auszusprechen. Dabei investiert gerade dieses Medium intensiv in die redaktionelle Bearbeitung der Blogs und Postings – wie es in jeder verantwortungsbewussten Redaktion üblich sein sollte. Mit dem Unterschied: Dort versteht man nachweislich die Struktur und Philosophie des Internets. Die Einfältigen hingegen blähen sich in ihrer moralisierenden Entrüstung zu Verbotsfetischisten auf: fordern Verbote, rufen zu Boykott auf, zu Werbeausschluss, zu Methoden, die einer Demokratie invers sind. So entsteht die Diktatur der Einfalt. Die Unkultur der Doktrin. Dagegen muss man sich wehren.