Editorial von Sebastian Loudon
Das wird jetzt eine Gratwanderung mit erheblicher Absturzgefahr. Wohlan: Allerorten erschallt der Ruf nach Transparenz beziehungsweise schleicht sich Transparenz als neues Paradigma einer nächsten Stufe der Aufklärung im kollektiven Verständnis zeitgemäßer Gesellschaftspolitik ein. Der Drang nach und die Macht der Transparenz kommen dabei von vielen Seiten, und sie entfalten sich auf zahlreichen Ebenen. Ob im kleinen Österreich als Reaktion auf unzählige Wirtschafts- und Politskandale, die das Vertrauen der Bevölkerung in das Establishment zu Recht erschüttert haben, oder am globalen Parkett mit Wikileaks & Co., die die Diplomatie ins Wanken gebracht haben.
Auch in unserer kleinen Welt der österreichischen Medienlandschaft ist Transparenz derzeit das große Thema – nach wie vor spalten sich die Geister am geplanten Medientransparenzgesetz, auf dessen Basis die Werbeausgaben von öffentlichen Unternehmen veröffentlicht werden sollen (Seite 2). Transparenz ist das Ziel, das es gilt, anzustreben, Transparenz ist das Heilmittel einer von Rücksichtslosigkeit und korrupter Gier vergifteten Gesellschaft. Diese Reaktion, der Ruf nach Transparenz, ist verständlich. Aber ist sie auch zielführend?
Es fällt schwer, sich explizit gegen Transparenz per se auszusprechen, erst recht in Anbetracht der Tatsache, dass scheinbar überall da, wo Menschen im Verborgenen agieren, so vieles schief läuft. Auch hier wieder haben die Wikileaks-Enthüllungen, die heimischen Politskandale und die Vergabepraxis bei staatlich gesteuerten Werbeausgaben einen gemeinsamen Nenner – wo immer etwas sichtbar wird, steckt meist auch ein kleiner Skandal drinnen. Und was, bitte, kann an Transparenz so schlecht sein, wenn sie fiese Machenschaften aller Art aufdeckt? Die Frage aber muss erlaubt sein: Kann Transparenz fehlenden Anstand ersetzen? Ist sie wirklich dazu angetan, das kaputt gegangene Vertrauen wieder herzustellen? Und was passiert mit einer Gesellschaft, einem System, wenn es so vehement in Richtung Transparenz drängt?
Einen interessanten Diskussionsbeitrag liefert da der deutsche, aus Korea stammende Philosoph und Medientheoretiker Byung-Chul Han in seinem neuen Buch „Topologie der Gewalt“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin). Han sagt es klipp und klar: Transparenz verunmöglicht jegliches strategisches Handeln – jeden Spielzug. Ohne Geheimsphäre werde aus Politik schlichte Administration, aus zwischenmenschlicher Kommunikation eine maschinelle, aus Erotik Pornografie. Das entsprechende Kapitel in Hans Buch heißt übrigens „Gewalt der Transparenz“ – auch die kommende Ausgabe des Bestseller befasst sich mit diesem Thema (Erscheinungstermin 5. Dezember 2011).
In der Transparenz ein zutiefst destruktives Element eines gesellschaftlichen Systems zu erkennen, widerspricht fundamental unserem Zeitgeist, dem digitalen Herdentrieb sowieso. Doch es schadet nicht, sich zu fragen, welche Folgen Transparenz für unsere Gesellschaft eigentlich hat: Ätzende Säure oder wohltuendes Wundermittel? Wie so oft heißt es wohl auch hier: Die Dosis macht das Gift.