Demokratie als Leihkostüm (4)
 

Demokratie als Leihkostüm (4)

Kolumne von Walter Braun

Die gegenwärtige Situation besitzt enorme Sprengkraft: Automatisierung weiter Teile der Wirtschaft ist technisch und organisatorisch möglich. Gleichzeitig befürchten einige Auguren, dass die westlichen Länder bevölkerungsmäßig stagnieren und daher einer dauerhaft wachstumsarmen Konjunktur entgegenblicken. Dazu ein fortwährend anwachsendes Heer von Pensionisten. Plus eine digitale Ökonomie, bei der ­einige, wenige Gewinner überdurchschnittlich abkassieren, was langfristig zu immenser Vermögensungleicheit führen kann. Das wären vier Tiefschläge, die die nachfolgende Generation in die Knie zwingen.

Ein freiberuflicher Journalist bekommt für seine Leistungen 2014 so viel bezahlt wie 1998, in den USA so viel wie 1988. Neue, junge Internetjour­nalisten arbeiten in der Regel völlig gratis. In denselben 16 Jahren, in denen Freiberufler einkommensmäßig auf der Stelle treten, haben sich 1.000 Euro, in den Londoner Immobilienmarkt investiert, vervielfacht.
Selbst bei Politikern mit einem IQ von 49 reichen drei Finger, um zu kalkulieren, wohin das führt: Binnen ein, zwei Generationen wird alles von Wert und Bedeutung einigen mächtigen Fonds, Riesenbanken, privaten Nabobs und globalen Konzernen gehören. Jede Fabrik, jedes Bürogebäude, jedes Stück Land, jeder Hafen, jedes Schiff, jeder Wald, jene Mine. Nächste Station Leibeigenschaft?

Diese Dynamik ist das dringlichste politische Thema. Einfältige Ideen wie ‚Reichensteuer‘ oder ‚Grundeinkommen ohne Gegenleistung‘ helfen sicher nicht. Keine der üblichen politischen Debatten hat auch nur die geringste Relevanz, wenn die Wirtschaft schrumpft und die Demokratie zu ­einem Leihkostüm verkommt. Vor Kurzem haben zwei US-Professoren in ­einer Studie gezeigt, dass die Macht in Amerika außerordentlich konzentriert ist und das politische System mehr ­einer Oligarchie denn einer Demokratie gleicht. Die Spitzenpolitik rechtfertigt sich heutzutage gegenüber internationalen Großunternehmen und einer Handvoll Milliardäre – aber nicht mehr gegenüber den eigenen Wählern. Lokale Kandidaten werden demokratisch aussortiert; was dann im Weißen Haus oder in Brüssel geschieht, kann der Wähler nicht mehr beeinflussen. Nur noch die Söldner, pardon, Lobbyisten.

Widerstand gegen die Vetternwirtschaft kann nur von einer informierten Öffentlichkeit kommen. Leider sind zu viele Medien mit ihrem Überleben beschäftigt, um sich diesem alles entscheidenden Thema zu widmen. Logisch, dass extreme politische Gruppierungen Zulauf erhalten – wie sonst sollten Bürger ihren ohnmächtigen Zorn ausdrücken? Eine sich ausbreitende kulturelle und ökonomische Unsicherheit mit politischen Totschlagworten („Europafeinde“, wie ein ahnungsloser Kom­mentator in der Zeit anlässlich der EU-Wahlergebnisse schwadronierte) zu verunglimpfen, hilft nur, fragwürdige Zustände zu zementieren …

[Walter Braun]
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