Brauchen wir investigativen Journalismus?
 

Brauchen wir investigativen Journalismus?

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Jenseits des HORIZONT

Der Begriff investigativer Journalismus ist zu einer Perseveration geworden. Ich gebe zu, dass ich diesen Begriff nicht mehr hören und lesen kann. Manchmal scheint mir, dass jedes geheime Blatt, dass irgendwie entdeckt und veröffentlicht wird, schon als Investigation verkauft wird. Investigativer Journalismus ohne gleichzeitige Erhellung von Hintergründen, Zusammenhängen oder historischen Vernetzungen und Bedinglichkeiten ist nichts anderes als kindhafter Voyeurismus. Und manchmal hart an der Grenze der Persönlichkeitskränkung und Beleidigung. Wenn Investigation als Spurensuche und nicht als tiefgehende Recherche betrieben wird, ist die Spur allein wertlos. Und per se erkenntnislos. Man sollte vielmehr – angesichts der unendlich vielen herumschwirrenden gefakten Videos, Fotos, Messages, die in sozialen Medien kursieren und gedankenlos von vielen Zeitschriften und Zeitungen übernommen werden – über gut recherchierenden, abwägenden Journalismus sprechen. Der Chefkorrespondent der ARD hat in einem kürzlich in der FAZ erschienenen Artikel die Dilemmata beschrieben, die er in einer objektivierenden, ab­wägenden, permanent hinterfragenden Berichterstattung über die Auseinandersetzungen in Israel und am Gaza­streifen durchlebt. Und auch auf die Machtlosigkeit von Texten gegenüber Bildern verwiesen.In einem österreichischen Nachrichtenmagazin, das sich stets der Investigation rühmte, hingegen finden sich – ohne Quellenangabe – seit Monaten immer wieder Storys und Reportagen, die verdächtig aussagengleich und satzgleich von deutschen Sonntagszeitungen (die echte Recherche und belegte Reportage durchführten) inspiriert sind. Und die Qualitätszeitungen, die sich ihrer fundierten Berichterstattung rühmen, drucken immer häufiger nahezu unbearbeitetes Agenturmaterial ab (wenigstens unter teilweiser Quellenangabe) – das erhellt wenig. Die paar investigativen Storys in den Magazinen, die noch dazu stets um einander ähnliche Themen kreisen, nerven eher als dass sie fesseln und führen Manchen gewissermaßen reaktant in Richtung Stockholm-Syndrom.Wir brauchen guten Journalismus angesichts der neuen sozialen Medien mehr denn je. Und nicht Kommentare von Chefredakteuren in Regionalblättern oder Magazinen, welche, ohne Hintergründe wirklich zu kennen und fundiertes historisches Wissen zu haben, ihre Meinung, sei es zur Ukraine und zu Russland, zu Israel und Palästina kundtun. Das ist Platzverschwendung und führt zu Vorurteilen. Investigieren ist einfach, wenn man nicht parallel dazu Aufklärungsarbeit betreibt, fundiert schreiben und zusammenfassend erklären kann. Letztendlich ist dann alles, was vorher nicht öffentlich war, und nun aufgedeckt wird, ein investigatives Produkt. Das ist zu wenig.Journalismus hatte noch nie so he­rausragende Chancen wie heute, da viele Channels und Gestaltungsmöglichkeiten offen sind: Er war auch noch nie so herausfordernd und qualitäts­verlangend.  Nachspüren alleine und Texte krude veröffentlichen ist zu wenig. Vielleicht geht es vielen Medien – zurecht – auch deshalb nicht besonders gut.
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