Zeitgeistkrankheit Langeweile
 

Zeitgeistkrankheit Langeweile

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Diese Woche geht's bei Walter's Weekly u.a. um Borgen statt Kaufen und Unternehmensjournalismus im Aufwind

Diese Kolumne macht sich jede Woche auf die Suche nach aktuellen Nachrichten und Entwicklungen der Kommunikationsbranche im angloamerikanischen Raum. Alle Beiträge gibt es hier zur Nachlese.

Müde im Zeitalter der eingebauten Überflüssigkeit

Im Jahr 1965 erregte Georges Perec mit seinem Roman „Die Dinge“ Aufsehen in Paris. Das Buch beschreibt erstaunlich hellsichtig den Zustand der sich langsam entwickelnden Konsumgesellschaft. Die beiden Protagonisten haben nur einen Traum, eine Religion, ein Ziel: Dinge zu erwerben. Und von Sachen zu träumen, die sich nicht leisten können. ‚Höherer Lebensstandard’ ist ihre einzige Leidenschaft. Ihr Leben erstarrt, und das junge Paar ist erschöpft.

Konsumkapitalismus funktioniert verlässlich, solange die menschliche Begehrensnatur angefeuert werden kann. Ein ständiges Streben nach mehr, besser, größer und neu braucht aber als Voraussetzung latente Unzufriedenheit – kein angenehmer Seelenzustand. Es erscheint logisch, dass ein Wirtschaftssystem, das zu einem beträchtlichen Ausmaß von Unwillen abhängt, periodisch Nachfrageschwächen erleben muss (ganz unabhängig vom Stand der Realeinkommen). Falls sich die aufkeimende Leih- und Tauschwirtschaft ausbreitet (siehe auch den folgenden Eintrag), könnte das messbare Folgen für die Nachfrage bei vielen bekannten Konsumprodukten haben.

Vor nur sieben Jahren ist das erste iPhone auf den Markt gekommen – und heute akzeptieren zig Millionen Menschen, dass sie sich von diesem Wunderding versklaven haben lassen. Jetzt soll der Computer in Armbänder und Brillen und Kleidungsstücke vordringen, manche wollen ihn gar unter der Haut tragen. Ein Kommentator merkte bissig an, dass Apple nicht nur Dinge verkaufe, sondern „kurze, flüchtige Momente der aufgeregten Erwartung“. Wer braucht denn wirklich Emails auf einer dicken Armbanduhr? Diese elektronischen Spielzeuge tragen allesamt auf der Rückseite eine Warnaufschrift: „Demnächst überflüssig“.

Die oben erwähnte Müdigkeit ist existentieller Art. Gleichzeitig macht sie sich natürlich auch körperlich bemerkbar. Wenn ich durch den Park gehe, sehe ich nicht nur aufputschwütige Jugendliche mit einem Energy Drink in der Hand, sondern zunehmend auch Kinder. In der Tat ist in Großbritannien der Sport- und Energy-Drinks-Markt in den vergangenen fünf Jahren um 50 Prozent gewachsen (derzeitiger Marktumfang: circa 1,9 Milliarden Euro).

Unsere ganze Gesellschaft macht einen müden und schlaflosen Eindruck. Allein, wie sich der Kaffeekonsum verstärkt hat – vom üblichen Tässchen im Wiener Kaffeehaus zu den Kübeln, die man nun bei Starbucks & Co erhält. Um uns wachzuhalten für die nächste aufregende technische Innovation, die uns schon ermüdet, bevor sie noch erhältlich ist?

Vision der künftigen Gesellschaft: Intensive, konzentrierte Arbeit, den Rest der Zeit dann wie hypnotisiert an eine digitale Nabelschnur angehängt, der aktuellen Umgebung entfremdet, völlig abhängig von einer unablässigen Zufuhr von geistig-sinnlichen Stimuli ..

Durchaus folgerichtig hat sich jüngst die Rede von ‚Konsumprodukt’ in Richtung ‚Konsumökosystem’ weiterbewegt. Ein gutes Beispiel wäre der chinesische E-Commerce-Riese Alibaba, den man als „Ökosystem Internet“ bezeichnet hat. Und wie lautet das Lebensmotto im Konsumökosystem? Friss oder stirb? Gähn...

Quellen:

www.theatlantic.com/technology/archive/2014/09/future-ennui/380099/

http://www.psychologytoday.com/blog/just-listen/201409/decoding-apples-secret-formula

http://theconversation.com/alibaba-investors-gamble-on-rise-of-ecosystem-internet-in-record-breaking-ipo-31807

http://www.foodmanufacture.co.uk/People/Energy-drinks-on-the-up

Borgen statt Kaufen

Was tun modesüchtige Frauen mit beschränktem Budget? Richtig, sie borgen sich teure Kleidungsstücke, anstatt sie zu kaufen und nach einmaligem Tragen im Schrank vermodern zu lassen. Nachdem sie in Mailand gestartet sind, hat nun die Website My Secret Dressing Room auch in London die Tore geöffnet. Verleiht werden gefragte Modefetzen, Schuhe, Handtaschen u.ä. Zeugs zum Auffallen.

Angeboten werden keine Ladenhüter, sondern echte Luxusmarken. Über 1.000 verschiedene Modeprodukte, die im Einzelhandel erworben einen um über 700.000 Euro ärmer machen würden. Unter den Verleihern befinden sich nicht nur unverkaufte Lagerbestände sondern auch Kleidungsbesitzer, die damit Geld machen wollen. Scheint eine rege Nachfrage zu herrschen, da auch andere Anbieter wie wishwantwear.com and girlmeetsdress.com sich in dieser Nische tummeln. Die Tauschwirtschaft scheint in Schwung zu kommen...

Quelle:

http://www.dailymail.co.uk/femail/article-2759459/Why-buy-clothes-borrow-New-website-allows-cash-strapped-fashionistas-rent-designer-items-wardrobes-heeled.html

www.mysdroom.com

Vorsicht, Unternehmensjournalismus im Aufwind

Im Jahr 2011 zeigte ein vom Wirtschaftsmagazin „Economist“ veröffentlichtes Chart den langsamen Abstieg der Zahl der Journalisten in den USA seit Mitte der 1990er. Dem gegenüber explodiert seit den 80er Jahren die Zahl der PR-Leute. Zurzeit dürfte das Verhältnis 1:10 lauten. Ein Grund, warum PR-Agenturen und firmeninterne PR-Stäbe sich so rasant ausgedehnt haben, ist, dass sie selbst Nachrichtenabteilungen aufbauen, richtige Redaktionen mit Schreibern, Fotojournalisten und Redakteuren.

Angetrieben wird diese Entwicklung durch eine subtile Form von redaktioneller Werbung: spannende Geschichten über Produkte/Unternehmen zu erzählen. Wie oft liest man Artikel über Apple und wundert sich, wie extrem positiv sie sind. Nun kann man den Stand der Dinge beklagen ... oder umarmen. Digitale Medien fördern den Trend, da Platzbeschränkung bei Textspalten nicht länger ein Problem ist und Multimediafähigkeiten dieses Werbeformat stark unterstützen.

Frage: Wie sollen sich traditionelle Medienhäuser diesem Phänomen gegenüber verhalten? Ein Medienanalyst empfiehlt, Verlage sollten voll aufspringen und neben ihrer klassischen Berichterstattung eine Abteilung für ‚Unternehmensjournalismus’ aufbauen.

Quelle:

http://www.mondaynote.com/2014/09/21/brace-for-the-corporate-journalism-wave/

Lesetipp der Woche: Macht Automation uns dumm?

Zeitungsgeschichten über Autofahrer, die so sehr auf ihr GPS vertrauten, dass sie im Abgrund einer Schlucht landeten, sind vielleicht amüsant zu lesen – aber verbirgt sich dahinter nicht eine zunehmende Entmächtigung, wenn wir die ureigensten Fähigkeiten uns von Maschinen abnehmen lassen? Befürchtet zumindest Nicholas Carr, der 2011 mit seiner Internet-Kritik „The Shallows“ (der deutsche Titel ist ungenießbar) für Aufsehen gesorgt hatte. In seinem neuen Buch „The Glass Cage“, das dieser Tage auch auf Deutsch erscheint („Abgehängt“, Carl Hanser Verlag), warnt Carr davor, dass eine vollautomatisierte Welt keineswegs sicherer sei. Nicht unbedingt ein gutes Argument im Falle von Flugzeugen oder U-Bahnen, da menschliche Reaktionen in unserer überkomplexen Welt oft zu langsam sind.

Allerdings sieht die Sache ganz anders aus, wenn Computer uns das Denken abnehmen; dann könnten wir in der Tat verblöden. Interessanterweise behaupten einige Forscher, in manchen (westlichen) Ländern einen markanten Fall beim durchschnittlichen Intelligenzquotienten registriert zu haben. Der Aufstieg der Maschinen – oder bloß schlechtere Schulen?

Quelle:

http://www.theverge.com/2014/9/23/6565113/review-nicholas-carr-makes-the-case-against-automation

http://www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-2730791/Are-STUPID-Britons-people-IQ-decline.html

Designanregung der Woche: ‚Silicon Modern’

Das Magazin „Wired“ hat eine hübsche Sammlung von Beweisstücken für eine Renaissance im Design (die sie versuchshalber mit „Silicon Modern“ betiteln) in 12 Lektionen zusammengestellt:

http://www.wired.com/2014/09/design-package-2014/

[Walter Braun]



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