Die Nutzung gerade jener Funktionen von Sprachassistenten, die für Marketer am interessantesten sind, liegt bei deutschsprachigen Usern vorerst brach. Experten sehen an diesen Tools jedoch kein Vorbeikommen und empfehlen einen breiten Mix aus Branding, Kundenpflege und Werbedruck.
Dieser Artikel ist zuerst in Ausgabe Nr. 31-32/2018 des HORIZONT erschienen. Noch kein Abo? Hier klicken.
George Nimeh könnte schon als Österreicher durchgehen: Wenn es um Voice Assistants geht, zitiert der US-Digitalexperte mit seiner Wiener Agentur Nimeh & Partners scherzhaft das angebliche Bonmot von Karl Kraus: „Wenn die Welt untergeht, gehe ich nach Wien. Dort passiert alles zehn Jahre später.“ Wie andere Branchenvertreter ist auch Nimeh überzeugt, dass sich die Zurückhaltung legen wird, mit der Sprachassistenten derzeit im deutschsprachigen Raum genutzt werden, und das Thema Voice dann für Marketing und Werbung ebenso interessant wie unausweichlich ist.
Die Durchdringung ist nicht das Problem: Die letzte Erhebung dazu für Österreich (Integral für das iab austria) datiert vom dritten Quartal 2017, und schon da nutzten 27 Prozent der Bevölkerung auf Voice ausgerichtete Digitalassistenten, vorerst vor allem auf dem Handy. Allein das letzte Weihnachtsgeschäft dürfte aber ein paar Prozent Plus bedeuten, und einen Schwenk hin zu Smart Speakern obendrein.
Auffallend ist jedoch, dass Sprachassistenten laut jüngsten Zahlen – HORIZONT berichtete – im deutschsprachigen Raum sehr passiv genutzt werden: Vorerst werden die Geräte für das Abspielen von Audio genützt, und für sonst nicht viel. Auf den potenziellen Marketing-Schlachtfeldern Voice Search und Voice Shopping herrscht noch Ruhe. Geht es nach Branchenexperten, ist es eine Ruhe vor dem Sturm.
"Eine Frage der Zeit"
Nimeh etwa sieht einerseits eine „kulturelle Challenge“, da Europa bei Nutzung von Technologie „generell eher einen privaten Ansatz“ habe, andererseits einen Rückstand beim Niveau der Programmierung der Devices auf deutsch, ist aber sicher: „Das ist nur eine Frage der Zeit. Vielleicht gibt es in ein, zwei Jahren noch keinen Gleichstand, aber sicher Sprachassistenten auf einer Ebene, die sie für die User auch hier interessant machen.“
Siegfried Stepke, Gründer und CEO von e-dialog, spricht gegenüber HORIZONT ebenfalls von einem „viel zurückhaltenderen“ Zugang zu Technik im deutschsprachigen Raum: „Wir können uns noch nicht vorstellen, auf der Straße herumzurennen und ins Handy zu schreien, um einen Response zu bekommen. In der Wohnung ist es schon leichter, aber auch da kommt man sich noch komisch vor, das zu tun. In Amerika ist die Hemmschwelle da viel niedriger.“ Andererseits habe sich hierzulande vor einiger Zeit auch kaum jemand vorstellen können, wie man mit so etwas wie Facebook Geld verdienen könne.
"Das wird supertoll"
Stepke diagnostiziert ebenso einen sprachlichen Rückstand bei den Devices: „Die Sprachassistenten haben ihre Skills anfangs nur auf Englisch gekonnt. Auch jetzt sehen Sie in tollen Promotionvideos, wie super das alles auf Englisch funktioniert – dann machen Sie’s zuhause auf Deutsch und sind frustriert, weil die Hälfte nicht geht. Das ist natürlich auch nicht förderlich für die Entwicklung.“ Man müsse „einfach Geduld haben. Wenn’s das Feature bei uns gibt, dann wird das supertoll.“ Dass sich Sprachassistenten durchsetzen werden, steht für Stepke außer Zweifel, „vor allem, weil allen klar ist, dass eine Tastatur oder ein Bildschirm, auf dem ich herumtippsen muss, nicht das natürlichste User-Interface ist. Im Dialog geht vieles leichter.“
Höchstens noch fünf Jahre
Auch nach Einschätzung von Amir Tavakolian, Managing Director B2C bei Virtual Identity, findet die aktive Nutzung von Sprachassistenten einfach „noch“ nicht statt: „Wenn man sich etwa Entwicklungen im Mobile Payment ansieht, auch da hinken Deutschland und Österreich einfach hinterher.“ Je nach Technologie gebe es hierzulande „Verzögerungen von ein bis fünf Jahren. Da werden wir irgendwo dazwischen liegen.“ Es habe ja auch „einmal eine Zeit gegeben, als noch nicht so viele Leute ein Mobiltelefon hatten, und da wurde man schräg angesehen, wenn man in der Öffentlichkeit telefoniert hat, und das ist mittlerweile ganz normal. Und ich glaube, dass mit der zunehmenden Akzeptanz der Technologie auch die persönliche und kulturelle Akzeptanz kommen wird – sie mag vielleicht später kommen, aber sie wird sicher kommen.“
Echter Mehrwert statt "Spielzeug"
Nimeh relativiert zudem die Verzögerung: „Wir sind durchschnittlich siebeneinhalb Jahre älter als die Amerikaner zum Beispiel. Das hat eine massive Auswirkung auf die Nutzung von neuen Technologien. Junge Generationen sind weit offener dafür.“ Tatsächlich weist auch die Integral-Umfrage aus, dass in Österreich bereits 40 Prozent der 14- bis 19-Jährigen die digitalen Assistenten nützen, was dem derzeitigen Schnitt in den USA entspricht. Treiber für die Qualität der Sprachassistenten werde Künstliche Intelligenz sein, sind sich Nimeh, Stepke und Tavakolian einig. „Allein in den letzten 24 Monaten haben wir da einen wahnsinnigen Fortschritt gesehen“, so Nimeh etwa unter Verweis auf Google Translate, das früher ein „Spielzeug“ gewesen sei und inzwischen sinnvoll nutzbar. Dieser Sprung stehe auch bei Sprachassistenten bevor. Dann werde die Technik Usern „echten Mehrwert“ bieten und damit die Verbreitung beschleunigen, „sowohl in anderen Ländern als auch bei der Entwicklung der Produkte selbst.“ Tavakolian ist sich ebenso sicher: „Das Problem der unterschiedlichen Syntax von Sprachen wird damit in Zukunft marginal werden. Das lässt sich jetzt schon belegen.“
Für Tavakolian ist das eine große Chance, „weil wir sagen können: ‚Wir wissen eigentlich schon, was in diesem Bereich funktionieren wird und was da ablaufen wird.‘“
Aus Nimehs Sicht ist es sogar höchste Zeit, sich mit Voice auseinanderzusetzen: „Je länger wir warten, desto schwerer wird es.“ Zwar gebe es auch aufseiten der Marketer noch vereinzelt Zögern, vor allem aber sei das in den Chefetagen so; wobei sich Nimeh wundert: „Wenn die Firma X mit Y Milliarden Umsatz im Vorstand zusammensitzt – wie kann das dort kein Thema sein?“
David, Goliath und Alexa
Derzeit bekomme man bei Suchanfragen, egal ob beim Surfen oder Bestellen, eine Auswahl, führt Nimeh vor Augen: „Und bei Voice Search bekommst du eine einzige Antwort. Darin liegt die große wirtschaftliche Herausforderung.“ Schon jetzt sei aus der Sicht von Start-ups jedes Handy wie die Steinschleuder von David, mit der etablierte Firmen, Organisationen und Regierungen als Goliath getroffen werden können. „Und jetzt kommt Sprache als zusätzliche Nutzung von Mobile, und sie sind überhaupt nicht vorbereitet. Voice ist noch ein Stein in dieser Steinschleuder. Davon bin ich überzeugt.“
Auch Tavakolian greift zu drastischen Worten: Marketing für Voice werde „noch schwieriger“ als im bisherigen digitalen Umfeld, „da eine klare Markenpräferenz geschaffen werden muss. Wenn ich es schaffe, dass meine Marke schon bei der Produktsuche vom Endanwender aktiv genannt wird, dann habe ich eine Chance. Wenn ich das nicht schaffe, werde ich dort untergehen.“
Wo ansetzen?
Aus Tavakolians Sicht muss Marketing für Voice außerhalb von Voice stattfinden: „Wenn ich mir die Elemente von Voice ansehe, muss ich mich fragen: ‚Habe ich eine starke Marke?‘ und der zweite Teil ist: ‚Schaffe ich es als Marke, eine Beziehung zum potenziellen Kunden aufzubauen?‘. In diese zwei Bereiche kann und muss ich investieren.“ Zur nötigen Taktik dafür gebe es für Voice zwar „bisher wenige Erfahrungsberichte“, sicher sei aber: „Wenn nach der Marke gesucht wird, dann wird sich auch die Marke im Suchergebnis entsprechend wiederfinden.“
„Klar ist brand immer extrem hilfreich“, meint auch Stepke. Dabei sei es „egal, ob ich die Performace über Search, über Social oder über Voice abholen will – oder auf der Straße, indem jemand in den einen und nicht in den anderen Supermarkt geht. Da gibt es keinen Unterschied, warum soll es hier anders sein?“
Stepke glaubt jedoch nicht daran, dass „Branding die allein seligmachende Lösung“ ist: „Selbst wenn jemand nach einer bestimmten Marke auf Voice sucht, kann ich dann mit einem Super-Angebot einer anderen Marke den Kunden zu verführen versuchen – selbst, wenn es nur 25 Prozent interessiert: Ich habe eine Chance. Branding ist zudem der teuerste Budgettopf.“
Marketing für Voice werde „wie jetzt auch – und wie immer – eine Preisfrage sein: Wenn Sie bei Google organisch weit oben sein wollen, müssen Sie sehr viel in die Optimierung Ihrer Seiten investieren, damit Sie dort hinkommen, und dann kann Sie immer noch jemand überbieten, und dann hängt es davon ab, wie viel Sie bereit sind, für den ersten Platz zu zahlen und ob sich das für Sie überhaupt auszahlt. Ich gehe davon aus, dass das auch bei Voice so sein wird“, und „alle technologischen und programmatischen Möglichkeiten genutzt werden müssen“ – und zwar personalisiert: „Das heißt, ich gehe nicht auf Reichweite und suche mir nicht jeden aus, der nach meinem Thema sucht, sondern die Richtigen, und für die personalisiere ich dann auch noch die Antwort.“
All das liege aber „noch nicht auf dem Tisch“, betont Stepke. Auch kenne man „die Formate, die möglich sein werden, noch gar nicht“. Das Swipen bei Produktsuchen etwa habe sich innerhalb kurzer Zeit als Mobile-Standard etabliert, und „vielleicht werden gescheite Köpfe auch eine Art Swipe für Audio finden“. Ebenso ließe sich an Sprachassistenten mit Bildschirmen als künftiger Standard denken, oder an Kopplung mit Devices wie Smartwatch oder Handy.
Stepke glaubt dementsprechend nicht, „dass alle schon wissen, welchen Schritt sie als Nächstes setzen sollen – das ist auch morgen noch nicht wichtig. Aber das sehr klar im Auge zu behalten und die Fühler auszustrecken, wo Voice in den eigenen Bereichen Sinn haben könnte, das, denke ich, ist schon wichtig.“•