Digitalexperte Steve Rogers war im Zuge der Eventreihe ‚Live Media Life‘ an der Wiener Graphischen zu Gast. Mit HORIZONT sprach er über neue Online-Erlöswege.
Dieses Interview ist in einer gekürzten Version zuerst in der Ausgabe Nr. 1-3/2020 des HORIZONT erschienen. Noch kein Abo? Hier klicken!
HORIZONT: Sie haben jahrelang für die BBC und Google gearbeitet. Seit mehr als einem Jahr verantworten Sie beim Zeitungs- und Magazinverlag Reach plc die digitalen Produkte. Sie kennen das Dilemma: Medien brauchen Werbung, um überleben zu können, und vertreiben damit oftmals auch ihre wertvollen Leser. Kann man diesen Widerspruch aufheben?
Steve Rogers: Medien müssen – auch in puncto Werbung – die Bedürfnisse ihrer Leser ins Zentrum stellen. Remarketing Ads sind hier der falsche Ansatz. Nehmen wir das Beispiel Schuhe. Der User hat auf Google nach Stiefeln gesucht, das passende Paar gefunden und gekauft. Und doch verfolgen ihn nach dem Kauf noch Schuhe über mehrere Seiten hinweg – Remarketing lässt grüßen. Der Leser ist genervt und wird die Seite in Zukunft meiden. Als Medienunternehmen müssen wir an den Punkt gelangen, an dem uns klar wird, dass man so nicht mit Lesern umgeht. Zielgerichtete Werbung ist die Zukunft. Hochglanz-Modemagazine machen es schon seit Jahren mit Erfolg vor: Mehr als die Hälfte des Magazins besteht aus Werbung, die von den Lesern nicht direkt als solche wahrgenommen wird. Die Werbung passt schließlich perfekt in das Umfeld des Magazins und spiegelt die Interessen der Zielgruppe wider.
Klingt logisch. Und doch ist klassisches Remarketing in digitalen Medien noch weit verbreitet. Warum?
Diese Frage habe ich in meiner Zeit bei Google auch einmal dem Zuständigen für Remarketing Ads gestellt – auch in Bezug auf die Verletzung der Privatsphäre von Nutzern. Seine Antwort war: Ja, aber sie funktionieren. Er konnte das mit Messungen belegen, in denen die Performance von Remarketing Ads etwas höher war als jene von gewöhnlichen Display Ads. Für Google und die Werber war das eine gute Sache. Und das ist das Problem: Will man als Medium von personalisierter auf zielgerichtete Werbung umsteigen, braucht es dazu die Zusammenarbeit mit den Anzeigenkunden. Ich denke, es wird mindestens fünf Jahre dauern, bis zielgerichtete Werbung Standard ist.
Wie holt man, wenn es so weit ist, jene Nutzer zurück, die aus Werbeverdruss Adblocker installiert haben?
Adblocker werden aus zwei Gründen installiert. Der eine ist, dass der Nutzer langsam eine Abneigung gegen die von Werbung übersäten Seiten aufbaut. Ein Publisher, der zielgerichtete Werbung nutzt, wird hier nicht genug sein. Viele Publisher, die den negativen Effekt von aufdringlicher Werbung erkannt haben und deshalb zielgerichtete Werbung nutzen, könnten das Problem stoppen.
Und der zweite Grund?
Dabei geht es um eine bestimmte Werbung, die so schrecklich ist, dass sich der Nutzer sagt: „Ich kann den Content mit diesem Ding hier nicht lesen und installiere deshalb einen Adblocker.“ Hier hat man als Publisher keine Chance mehr. Die gute Nachricht: Die Zahl an Neuinstallationen von Adblockern wächst im Moment nicht. Das hat etwa damit zu tun, dass das bei mobilem Surfen, durch das nahezu jeder auf Content zugreift, schwieriger ist. Aber: Adblocker sind nur ein Weg, um Werbung loszuwerden. Man kann auch einfach auf eine andere Seite gehen. Wenn die Menschen allerdings die Zeit auf der jeweiligen Seite genießen, werden sie auch wiederkommen. Es ist schließlich auch wichtig, die Anzahl der Leser und den Traffic zu steigern.
Ist das Finanzierungsdilemma von digitalen Medien nicht ein hausgemachtes? Schließlich hat man Online-Content seit Anbeginn verschenkt.
Absolut, wir als Industrie haben Menschen beigebracht, dass Content gratis ist. Ihnen nun beizubringen, dass Content einen Wert hat, für den man zahlen muss, ist hart. Und: Die Wechselkosten zu einem anderen Medienangebot im Internet liegen bei null. Wenn ich etwa wissen will, wer die Wahl in Großbritannien gewonnen hat, gehe ich auf Google. Wenn ich auf ein Ergebnis klicke und auf der Seite eine Paywall auftaucht, kann ich ohne Aufwand auf den Zurück- Button klicken und das nächste Ergebnis wählen. Das wiederhole ich so lange, bis ich einen Artikel finde, der mir gefällt und gratis ist – ein typisches Nutzerverhalten. Es gibt nur wenige Medien, die für ihren Content Geld verlangen können.
Was machen diese Medien besser als andere?
Der Content ist wirklich einzigartig oder nützlich. Die Financial Times kann zum Beispiel Geld verlangen, weil ihr Content einzigartig ist und Menschen hilft, Geld zu verdienen. Dafür ist man bereit, zu bezahlen. Für den Guardian muss man prinzipiell nicht bezahlen. Aber jedes Mal, wenn man einen Artikel liest, bittet der Guardian um eine Spende. Dieser Ansatz beginnt Früchte zu tragen, der Guardian verdient mit Spenden mittlerweile mehr als mit Werbung. Allerdings ist der Prozentsatz an Lesern, die spenden, noch ein geringer, und die meisten von ihnen kommen aus den USA – obwohl es ein britisches Medium ist.
Woran liegt das?
In der amerikanischen Kultur ist das Verständnis, dass man für Content bezahlen muss, größer als in der britischen. Ein anderes Problem ist, dass jemand, der bereits ein Medium abonniert hat, voraussichtlich nicht für ein weiteres zahlen möchte. Die Anzahl an Menschen, die zu zahlenden Abonnenten werden, liegt bei etwa drei bis fünf Prozent – das bedeutetet, dass mehr als 95 Prozent Content weiter als kostenlos erwarten.
Wird man im Endeffekt die Werbung oder die Zahl der Abonnenten steigern müssen?
Ich bin davon überzeugt, dass die Anzahl zahlender Leser steigt, aber das wird noch dauern. Ich schätze, dass Paid Content in etwa fünf Jahren üblicher sein wird. Die Werbung kann nicht mehr steigen. Nahezu jeder Publisher hat bereits die höchstmögliche Dichte an Werbung auf seiner Seite.
Daten machen Werbung effektiver. Gibt es Grenzen bei deren Nutzung?
Für mich gibt es hier klare Grenzen, und die Branche überschreitet sie oft. Wir sind mit der Privatsphäre der Menschen schrecklich umgegangen. Es ist klar, dass das Internet und besonders die Privatsphäre immer stärker reguliert werden. Ich finde Regulierung in dem Bereich grundsätzlich nicht toll, allerdings müssen wir uns als Branche dem stellen. Einige der Fragen, die den Usern hier gestellt werden, sind aus meiner Sicht etwas zu komplex.
Inwiefern?
Ich spreche von den Pop-up-Fenstern, die den User Fragen ob er Cookies akzeptiert – heutzutage gibt es hier mehrere Optionen. Die Entscheidungen, die die User treffen sollen, sind – sogar für jemanden wie mich aus der Branche – komplex. Für jemanden, der nur gehört hat, dass Cookies schlecht sind und sie einfach nur loswerden will, handelt es sich dabei um eine lange Liste an Müll, der er zustimmen soll oder nicht. Dabei gibt es nicht nur Remarketing-Cookies, sondern auch eine Menge von Cookies, die die Seite besser arbeiten lassen, etwa dass User Name und Passwort bereits gespeichert sind. Wir müssen den Nutzern jenen Daten-Handel also viel einfacher erklären. Bis wir dahin kommen, dauert es meiner Meinung nach noch. Bis dahin bleibt ein kompletter Mangel an Vertrauen.
Die Nutzer werden also ihre Daten freiwillig teilen, wenn sie einen Vorteil darin sehen?
Wenn man ihnen erklären kann, wofür die Daten verwendet werden und man mit ihnen einen Deal machen kann, den sie verstehen, dann ja. Das muss allerdings über den typischen „Wenn du mir deine Daten gibst, kannst du meinen Content weiterlesen“-Deal hinausgehen.
Die Technologie wirkt sich auf journalistische Arbeitsweisen aus. Wird künstliche Intelligenz Journalisten früher oder später ersetzen?
Nicht in naher Zukunft. Journalisten und Verlegern werden mithilfe von künstlicher Intelligenz in Zukunft eine größere Menge an Geschichten behandeln können. Es gibt eine Menge Dinge, die für einen Journalisten nicht besonders spannend sind und automatisch generiert werden können. So können Journalisten mehr Zeit in Stories investieren, die eingehende Recherche benötigen. Und ich denke, das lohnt sich.
Sie haben jahrelang für die BBC gearbeitet. Diese sieht sich derzeit mit politischen Angriffen konfrontiert. Was raten Sie der BBC für deren Zukunft?
Es gibt in der BBC einige Dinge, die eine unglaublich wichtige Rolle spielen, etwa nationale Geschichts-Dokumentationen und die BBC News. Ich glaube nicht, dass es hier einen vergleichbaren privaten Sender gibt. Ich glaube auch nicht, dass es einen vergleichbaren Sender gibt, der solch einen investigativen und manchmal ziemlich unangenehmen Journalismus betreibt. Das Problem ist, dass die Menschen nicht sehen, wie viel diese Dinge kosten und nicht bereit sind, dafür zu zahlen. Ich denke, es wäre möglich, eine neue Verfassung für einen öffentlich-rechtlichen Sender wie die BBC zu generieren.
Wie genau sollte diese aussehen?
Jeder staatliche Sender hat eine bestimmte Verfassung, nach der er arbeitet und die definiert, was er darf oder nicht darf. Es wäre möglich, diesen Sender als eine Aktiengesellschaft zu definieren, der dieselbe Verfassung hätte, aber Geld verdienen könnte. Das würde die gesamte finanzielle Dynamik verändern, aber es wäre komplex. Ich hoffe, ein Land entschließt sich dazu schnell genug, um zu verhindern, dass der Sender in der Zwischenzeit zusammenbricht.