Diese Woche geht´s bei Walter`s Weekly u.a. um eine App, die vorgibt, das Sexleben zu verbessern und um High-Tech in der Werbung
„Niemals zuvor haben sich die Lebensbedingungen für die Menschheit so rasch und umfassend verändert, wie in den letzten 50 Jahren.“ Schrieb HG Wells im Jahre 1935, in einer Zeit als Privatautos noch selten, Fernsehen unbekannt und tragbare Supercomputer unvorstellbar waren. Seither überrollen uns die Innovationen.
Unser vielleicht größtes Problem angesichts einer Welle lebensverändernder Technik: Wir sind undisziplinierte Anwender. Uns fehlt ein Wertekatalog, der uns bei der Beurteilung von verlockenden neuen Technologien helfen würde. Die Gleichung, neu = gut, erscheint angesichts der wuchernden digitalen Parallelwelt als zu einfältig.
Eine rundum technisierte Welt führt letztlich dazu, dass wir uns selbst unter technischen Auspizien beurteilen. Typisch ist die wachsende Bereitschaft zur Selbstvermessung und Selbstbeurteilung anhand von Daten. Aktuelles Beispiel eines mechanistischen Denkens: Eine App, die vorgibt, das Sexleben zu verbessern. Man legt während einer erotischen Einlage das Smartphone neben sich aufs Bett, das u.a. die monatliche Sexfrequenz, die Heftigkeit des Zustoßens, sogar die Dezibel der Lustschreie registriert. Dafür vergibt die App „Spreadsheets“ Punkte, die Männlein und Weiblein dazu benutzen können, hirnlose Sexwettbewerbe anzufachen. Von Apps dieser Art gibt es schon eine ganze Reihe, „Kindu“, „Sex Drive“, „iKamsautra“, „69 Places“ oder „Luxury Superbia“.
Harmlos? Vielleicht. Plemplem? Ganz sicher. Eine Mixtur aus bizarrem Leistungsdenken und einer völlig mechanistischen Lebensauffassung. Angebote dieser Art sollen uns auf eine Welt vorbereiten, in der ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in Fantasiewelten abdriftet. Google werkt gerade daran, die ganze Welt abzufilmen (hat dazu eine eigene Satellitenfirma namens Skybox gekauft). Diese Bilder werden eines Tages mit Hilfe neuronaler Computernetzwerke zu einer ‚begehbaren’ virtuellen Wirklichkeit aufbereitet. Kein Mensch braucht dann noch die Mühen des Reisens und des Lernens auf sich zu nehmen (und kann trotzdem das Gefühl haben, überall gewesen zu sein und alles zu verstehen).
Dass Künstliche Intelligenz von sich aus die Welt übernimmt, ist kaum zu erwarten. Wahrscheinlicher ist, dass einflussreiche, immens wohlhabende Unternehmen Digitaltechniken einsetzen, um Bereiche der Wirtschaft sowie das teure Gesundheitswesen zu kontrollieren. Im Endeffekt wird ein Teil der Menschheit in einem Konsumghetto leben, genährt von der Illusion, frei und unabhängig zu sein. Das erwünschte Verhalten wird über Gängelung und mittels Angeboten von Gratiskonsum erreicht.
Um eine solche Welt zu erzeugen, braucht es schier allwissende Computer. In der Tat werden selbstlernende Programme rund um die Uhr mit dem Wissen und den kreativsten Ergüssen der Menschheit gefüttert. Google hat vor kurzem eine hanebüchene Version eines ‚philosophischen Gesprächs’ mit einem Rechner präsentiert. Beeindruckender sind computerisierte Versuche, ‚Kunst’ zu schaffen bzw. Roboter, denen medizinisches Können beigebracht wird.
Natürlich fehlt einem Blechhirn jegliches Verständnis für das existentielle Gefühl, Mensch zu sein. In einer simulierten, total mechanisierten Welt scheint das keine Rolle zu spielen. Was zählt, sind Effizienz, Ruhigstellung und Profit. Auffallend ist, dass die neuen Techniken als absolut notwendig und unumgänglich propagiert werden. Wer nicht mitmacht, wird als rückständig (oder gar als unzuverlässig) angesehen.
Ob den begeisterten Vorreitern, die versuchen, ihr gesamtes Leben über Daten zu optimieren, je bemerken, wie sehr sie an instinktiven Fähigkeiten (an Menschlichkeit?) verlieren und von High-tech-Krücken abhängig werden?
Vielleicht sollten die Technikgläubigen sich an eine Rede aus dem Jahr 1783 erinnern, gehalten von William Pitt, als er im zarten Alter von 24 Jahren britischer Regierungschef geworden war:
„Jeder Verstoß gegen menschliche Freiheit beruht auf einem Appell an die Notwendigkeit. Es ist das Argument der Tyrannen; es ist das Credo der Sklaven.“
Quellen:
http://theconversation.com/our-love-of-technology-risks-becoming-a-quiet-conspiracy-against-ourselves-43428http://www.wired.com/2015/06/paired-ai-vr-google-earth-will-change-planet/http://www.telegraph.co.uk/news/science/science-news/11703662/Threat-from-Artificial-Intelligence-not-just-Hollywood-fantasy.htmlhttp://www.washingtonpost.com/sf/national/2015/06/27/watsons-next-feat-taking-on-cancer/http://www.wired.com/2015/06/google-made-chatbot-debates-meaning-life/http://www.vice.com/en_uk/read/algorithms-making-art-834http://www.theverge.com/2015/6/23/8825435/the-quantified-sex-life-appsTechnikgläubigkeit erfasst auch WerbungWird alljährlich beim weltgrößten Werbefestival in Cannes wirklich noch Kreativität gefeiert? Kreative Werbung ist nahe bei der Kunst, braucht Zeit, Geld und Vertrauen. Die sind in einer auf Effizienz hin ausgerichteten Welt nicht mehr so leicht verfügbar. In der Digitalwelt bestimmen die Mega-Plattformen, wie kommerzielle Kommunikation auszusehen hat – stromlinienförmig und datenoptimiert. Keineswegs individuell und kratzbürstig.
Gute Werbung erzählt Geschichten, in denen menschliche Anliegen dargestellt werden. Werbung soll nicht erfinden, wie Technik es tut, sondern die Kultur, in die sie eingebettet ist, widerspiegeln. In vielen aktuellen Kampagnen sind nicht länger die Verbraucher die Helden, sondern High-Tech.
Technologie wird nicht mehr als Diener, sondern zusehends als Taktgeber, dem wir uns anzupassen haben, präsentiert. Es ist nicht unbedingt Aufgabe der Werbung, eine total technisierte Lebensweise zu hinterfragen – aber Medien, die von solcher Art Werbung abhängig geworden ist, tun es auch nicht mehr...
Quelle:
http://www.theguardian.com/media-network/2015/jun/29/cannes-lions-advertising-people-technology-creativityLesetipp der Woche:Unser Leben ist mittlerweile so sehr mit der Digitalwelt verzahnt, dass ein Autor vorschlägt, wir sollten sie als unsere 4. Dimension akzeptieren. Das hat Konsequenzen: Nicht nur organisieren wir Arbeit und Forschung auf neue Weise – wir lassen gleichzeitig zu, dass lange währende Aufenthalte im Cyberspace unsere Gehirne neu verdrahten.
Ist das gut oder schlecht? Eine Frage, mit der wir uns intensiv auseinandersetzen sollten (sofern wir uns nicht passiv überrollen lassen wollen).
„The Four-Dimensial Human: Ways of Being in the Digital World“, von Laurence Scott, Verlag Heinemann
Update: Kopflose Hühner der Verlagswelt Will Lewis, Chef des Unternehmens Dow Jones (zu dem auch das renommierte „Wall Street Journal“ gehört), beklagte bei einer Podiumsdiskussion in Cannes: „Was uns und der Branche ein Anliegen ist: Stürmen wir wie kopflose Hühner auf die Angebote von Firmen wie Apple oder Facebook und stellen unsere Inhalte hinter deren Gartenmauern ab?“
Lewis begrüßte an sich das Auftauchen neuer Unternehmen aus dem Techniksektor, die an Medieninhalten interessiert sind, da für ihn „professionell gemachte Nachrichten ungemein wichtig sind für die Gesellschaft“. Gleichzeitig findet er Nachrichtenquellen von der Qualität „Katze auf Skateboard“ gefährlich für die Medienbranche. Wenn Medien rein auf Unterhaltung reduziert werden, gehe ihr „tiefer moralischer Zweck“ verloren.
Was den Umgang mit den neuen digitalen Vertriebsplattformen betrifft: Dow Jones ist im Gespräch mit allen Anbietern, will aber nur Partnerschaften eingehen, wenn das Angebot ein Abo-Element beinhaltet. Werbung allein reiche nicht, um seriöse Medien zu finanzieren, meinte Lewis.
Quelle:
http://www.theguardian.com/media/2015/jun/25/dow-jones-chiefs-tech-warning-on-news-undermined-by-cats-on-skateboardsWalter’s Weekly geht in die Sommerpause - Den nächsten Blogbeitrag gibt's am 24. Juli. [Walter Braun]