Diese Kolumne macht sich jede Woche auf die Suche nach aktuellen Nachrichten und Entwicklungen der Kommunikationsbranche im angloamerikanischen Raum
Jüngst gab es einen Sturm im Wasserglas, als herauskam, dass Facebook vor zwei Jahren zu Studienzwecken die Textbotschaften von fast 700.000 Leuten manipuliert hatte. Man wollte herausfinden, ob Stimmungen in Netzwerken weitergetragen werden, sich also andere Leute ‚anstecken’ lassen („emotional contagion“ ist der Fachbegriff).
Seit diese Einflussnahme herausgekommen ist, wird im Kommentariat furchtbar geklappert. Letztlich ist an FB’s Verlangen nichts ungewöhnlich. Wir werden fortwährend manipuliert – wenn im Supermarkt gelbe Scheinwerfer grünes Obst als reif erscheinen lassen; wenn in Kaufhäusern Musik und Düfte unseren kritischen Verstand ablenken sollen; wenn der Wucherverleiher Wonga säumigen Schuldnern mit gefälschten Anwaltsbriefen Angst einjagt.
Nun erlaubt die Technik aber, Herzen und Hirne systematisch zu infiltrieren. Beim Werbespektakel in Cannes wurde jüngst den Besuchern ein kleiner Vorgeschmack geboten, wie ein simples Armband biometrische Daten zur Deutung der Stimmungslage erheben kann. Naheliegend, dass künftig nicht nur Musik und Hollywoodfilme auf diese Weise vorab getestet und optimiert werden, sondern auch Produkte und ihre Werbeauftritte.
Klingt alles recht harmlos. Auch bei der gerade laufenden Ausstellung „Digital Revolution“ im Londoner Kulturzentrum Barbican steht der Spaß am Mitmachen im Vordergrund, wenn diverse Installationen die Besucher tiefer in das optisch-akustische Dargebotene hineinzuziehen versuchen.
Die Cornell University, die das eingangs erwähnte Facebook-Experiment durchgeführt hatte, arbeitet übrigens auch für das US-Militär. Die Forscher analysieren Soziale Netzwerke, besonders Facebook, auf die vorherrschende Stimmungslage hin, um potentielle ‚Kipppunkte’ vorzeitig ausfindig zu machen. Vordergründig geht es um revolutionäre Bewegungen in politisch instabilen Ländern – aber solche Überwachungsprogramme machen sicherlich nicht vor der eigenen Bevölkerung halt. Wer glaubt denn, dass die mächtige US-Behörde Homeland Security dazu geschaffen wurde, ausländische Terroristen ausfindig zu machen (wofür die CIA zuständig ist)? Ist es nicht eher so, dass die einheimischen Plutokraten vor revolutionären Bewegungen im eigenen Land geschützt werden sollen?
Google will uns gar das Denken abnehmen. “Android Wear”, das Operating System von Google Watch und Google Glass, besitzt eine Funktion, die über normales Abrufen von Apps hinausgeht. Die Software ist auf die aktuelle Umwelt hin kalibriert und zieht daraus Schlüsse, d.h., sie macht selbständig Vorschläge. Die Googler haben dafür sogar einen eigenen Begriff – ‚emergent design’.
Ein Beispiel wäre, wenn die Google-Uhr bemerkt, dass man in Richtung Flughafen unterwegs ist. Das Ding tut dann auf schlau und bietet vorsorglich einen Bericht zur aktuellen Verkehrslage an oder offeriert via Pinterest Fotos von der geplanten Destination.
Rapport Radio, eine Erfindung britischer Studenten, geht in dieselbe Richtung. Ein Ding, das wie eine Lampe aussieht und eine Webcam enthält, analysiert den Gesichtsausdruck des Zuhörers und passt dann die Songauswahl und Lautstärke an die vorherrschende Stimmung an.
Frage: Haben wir für diese Art von ‚Lösungen’ nicht unsere ureigensten Sinne!? Wären wir nicht aufgrund der Technik so extrem geistesabwesend, bräuchten wir keine Technik, dieses selbstgeschaffene Problem zu lösen. Wer sich ständig auf GPS verlässt, büßt an Orientierungssinn ein. So wie Google Translate es uns abnehmen möchte, eine Fremdsprache zu erlernen, kann uns eine Welt der Suchmaschinen von jeglicher Wissensnot befreien: Wozu Mathematik, Geografie oder Geschichte? Alles ist nur einen Knopfdruck entfernt.
Bloß wird nicht erwähnt, dass dann niemand mehr Zusammenhänge versteht, denn dafür braucht es Hintergrundwissen. Wenn wir uns das Denken abnehmen lassen, können wir dann noch ernstlich den Anspruch erheben, Herr im eigenen Haus zu sein? Das kann man auch wortwörtlich nehmen, da uns nun ‚schlaue Häuser’ angedient werden, die uns ganz nebenbei überwachen. Was tun wir nicht alles für ein bisschen Bequemlichkeit – wir verkaufen dafür sogar unsere Seele!?
Versicherer werden demnächst von Autofahrern verlangen, dass sie ihre Fahrweise überwachen lassen. Wer nicht mittut, wird mit höheren Prämien bestraft. Wollen wir wirklich eine Welt, in der alle unsere Bewegungen, Äußerungen und Stimmungen registriert werden? Wo Maschinen unsere Absichten vorwegnehmen und uns überempfindliche Wesen vorsorglich in Watte hüllen? Endstadium Dekadenz?
Dekadenz ist das Verlangen, fortwährend anregenden Eindrücken ausgesetzt zu sein. Das kann man natürlich positiv als ‚Erfahrungen machen’ darstellen. Wenn aber Erlebnisse und Suhlen in Gefühlen zum Daseinszweck werden, könnte das Endergebnis eine rundum gesteuerte Welt sein. Willkommen in der Matrix!
Vor kurzem fand im Kopenhagen erstmals eine Versteigerung statt, bei der die ausgestellten Kunstwerke nicht an den besten Zahler gingen, sondern an jene, die die stärksten emotionalen Reaktionen zeigten. Von hier ist es nicht mehr weit, den skeptischen, wertenden Verstand zu verteufeln und stattdessen vom braven Bürger eine fortwährende Absonderung von erkennbaren Gefühlen zu erwarten. Sind wir wirklich bereit, selbständiges Denken aufzugeben?
Wer glaubt, dies sei zu weit hergeholt: Jüngst kam bei einem Experiment zutage, dass die Probanden lieber einen elektrischen Schock erhielten, als alleine mit ihren Gedanken zu sein…
Quellen:
http://theconversation.com/condemn-facebook-snooping-if-you-will-but-we-are-all-part-of-a-great-big-online-experiment-28695http://www.wired.com/2014/07/googles-takes-a-bet-on-the-future-of-ui-context/http://www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-2677316/A-radio-attuned-moods-Device-uses-camera-detect-listener-feeling-choosing-appropriate-song.htmlhttp://qz.com/229800/the-us-military-is-already-using-facebook-to-track-your-mood/http://pando.com/2014/07/07/time-magazine-shows-just-how-creepy-smart-homes-really-are/http://qz.com/230055/car-insurance-companies-want-to-track-your-every-move-and-youre-going-to-let-them/http://www.theatlantic.com/health/archive/2014/07/people-prefer-electric-shocks-to-being-alone-with-their-thoughts/373936/Erstaunen der Woche:Natürlich ist Werbern die Aufmerksamkeit von Bewohnern reicher Länder mehr wert als Augen und Köpfe in Regionen ohne Spendiergeld. Dennoch sind die Unterschiede krass. Um einen Amerikaner mit ihrer Botschaft zu erreichen, geben Werbetreibende heuer rund 565 Dollar aus. In Indien sind es bloß mickrige 5 Dollar pro Kopf.
Ferner ist auffällig, dass hinter den Amerikanern die Skandinavier die intensivsten Werber sind, während man in Italien und in Russland der Werbung offenbar wenig vertraut...
Quelle:
http://www.emarketer.com/Article/Global-Ad-Spending-Growth-Double-This-Year/1010997?_ga=1.202901329.1780849983.1404818128http://qz.com/232141/advertisers-value-americans-almost-110-times-more-than-indians/Warum der totgesagte PC immer noch lebtHier eine gute Analyse, warum die jahrzehntealte Idee von ‚dummen Werkzeugen’, die an schlaue Netzwerke andocken, sich noch immer nicht durchgesetzt hat:
http://www.mondaynote.com/2014/07/06/the-network-is-the-computer-google-tries-again/[Walter Braun]