Die ORF-Journalistin Nadja Hahn hat untersucht, wie Öffentlich-Rechtliche wie die BBC mit Social Media umgehen. Fazit: Fortschrittlich.
Nadja Hahn: Meine Antwort ist ganz klar: Ja. Ich habe es in der Arbeit sehr pointiert formuliert: Wer das heutzutage nicht macht, erfüllt seinen öffentlich-rechtlichen Auftrag nicht vollständig. In England hat man das sehr schön formuliert: „It’s a disservice to the public“, also: Ich biete meinem Publikum nicht alles, was ich sollte. Es geht vor allem darum, anzuerkennen, dass vor allem junge Menschen Medien ganz anders konsumieren. Sie stolpern mehr oder weniger über ihre Nachrichten, wenn sie von Freunden einen Link bekommen. In England gibt es dazu Studien, die das schon ganz deutlich zeigen, dass dieser Trend immer mehr zunimmt. Mein Argument ist also: Als öffentlich-rechtlicher Rundfunk habe ich eine Pflicht, dort präsent zu sein. Ich muss dort fischen, wo die Fische sind, um ein englisches Sprichwort zu übersetzen: Das Publikum dort abholen, wo es sich aufhält. Ein BBC-Journalist hat das so gesagt: „Das Publikum soll uns nicht suchen, sondern wir müssen es finden.“ Dazu habe ich auch ein Effizienzargument: Wenn ich schon mit Gebührengeldern tolle Programme mache, dann muss ich sehen, dass ich sie unter möglichst viele Leute bringe. Deshalb möchte der ORF diese Medien auch voll nützen dürfen.
HORIZONT: Sie haben Ihre Untersuchung in Großbritannien durchgeführt, wo auch die Mutter aller öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sitzt, die BBC. Wie geht man dort eigentlich mit dem Thema um? Hahn: Ich habe mir schon gedacht, dass wir in Österreich ein bisschen hinten nach sind, aber ich habe nicht geahnt, wie weit hinten wir sind. Ich habe dann die Möglichkeit gehabt, viele Journalisten der BBC zu interviewen und den neuen Multimedia-Newsroom der BBC zu besuchen und mir anzusehen, welche Rolle Social Media dort spielen. Ich habe auch darauf bestanden, einen ganzen Vormittag dort zu verbringen und auch alle Sitzungen zu besuchen, weil ich wissen wollte: Sind die Social-Media-Redakteure bei allen Sitzungen mit dabei? Wie sind sie in die Planung einbezogen?
HORIZONT: Wie sieht das im Newsroom der BBC konkret aus? Hahn: Zuerst einmal gibt es dort ein Social-Media-News-Team. Ein Team, das einerseits User-generated Content ansieht, die Videos, die Bilder, die Kommentare, die auf allen möglichen Kanälen zur BBC kommen. Die BBC fordert ja auch aktiv das Publikum auf, mitzureden, dafür benutzt man vor allem Twitter, aber auch Facebook. Das Social-News-Team funktioniert auch ähnlich wie eine Nachrichtenagentur. Sie sitzen in der Mitte des Newsrooms, und wenn es Breaking News gibt, tweeten die das zuerst über ihre BBC-Accounts oder retweeten Breaking News von ihren eigenen Journalisten. Ich habe die Frage gestellt, warum sie in der Mitte sitzen. Die Antwort war ganz klar: Sie sind die ersten, die die Nachrichten publizieren. Bevor irgendwas im Fernsehen oder Radio ist, ist es im Internet, und bevor es online ist, ist es auf Twitter. Sie sind die erste Stimme nach außen für Breaking News und sie müssen die Inhalte, die sie da twittern oder auf Facebook posten, mit dem Internetressort und anderen Ressorts abstimmen. Die Inhalte werden verlinkt zur Website und müssen harmonisch sein und zusammenpassen.
HORIZONT: Der Tweet als kleinstmögliche Nachrichtenform hat denselben Kriterien zu entsprechen wie ein Radiobeitrag? Hahn: Absolut. Der Tweet muss informativ sein, objektiv, ausgewogen. Die Schwierigkeit ist: Postings müssen interessanter geschrieben sein als zum Beispiel der Titel einer Nachrichtenagentur. Auch bei der BBC gilt hier das Vier-Augen-Prinzip. Bevor etwas auf Twitter hinausgeht, schauen sich das mehrere Leute an. Dann erst wird die Geschichte auf der Website erzählt und multimedial aufbereitet. Die für mich überraschende Erkenntnis war: Über Twitter ist die BBC eigentlich zu einer Nachrichtenagentur geworden, weil sie genauso arbeitet. Das unterstreicht den Trend: Online first. Die alte Denke „Ich hebe mir meine Geschichte bis zu den Abendnachrichten auf“ hat sich überholt.
HORIZONT: Da gibt es auch keine Scoops, die man sich zurückhält? Hahn: Das kann man nicht so hundertprozentig sagen. Aber ich habe ein Beispiel beschrieben in der Arbeit von ITV, wo eine Journalistin im Zug sitzt und bemerkt, dass Finanzminister George Osborne mit einem Zweite-Klasse-Ticket in der ersten Klasse sitzt und sich weigert, Aufpreis zu zahlen. Die Fernsehjournalistin hat das Wortgefecht getwittert. Ohne Kamera. Es war ihr Scoop und ihre Breaking-News-Story, und sie hat nicht gewartet, wie sie es am Abend bebildern oder erzählen kann.
HORIZONT: Was wurde aus diesen Tweets?Hahn: Sie war am Abend in allen Nachrichten. Und alle Zeitungen haben darüber geschrieben, dass Finanzminister John Osborne völlig den Kontakt zur Bevölkerung verloren hat.
HORIZONT: Daran knüpft eigentlich die Frage, die auf Twitter gerne diskutiert wird: Wie privat ist ein Journalist in dem sozialen Netzwerk? Kann man das überhaupt sein?Hahn: Ich glaube nicht, dass man das trennen kann. Als öffentlich-rechtlicher Journalist ist man mit seinem Namen bekannt. Auch wenn man zehnmal hinschreibt, das sei ein privater Account, kann man die private Meinung dort nicht sagen. Man muss immer ausgewogen schreiben, darf niemanden beleidigen, darf keine politischen Meinungen von sich geben. Auch wenn man es „privat“ benutzt, ist man dennoch nicht privat. Jeder Journalist, der Twitter nutzt, steht mit seinem Namen für das Unternehmen, für das er arbeitet.
HORIZONT: Können Sie nachempfinden, dass sich die Zeitungsverleger auf dieser Ebene vom ORF angegriffen fühlen?Hahn: Ich möchte dazu nur sagen, dass ich die ganzen Argumente aus Österreich in England vorgebracht und getestet habe, sowohl bei Medienexperten als auch bei Konkurrenten der BBC. In England konnte das niemand nachvollziehen, auch die Konkurrenz nicht. Medienexperten haben infrage gestellt, ob überhaupt so viel Geld auf den Facebook-Seiten zu verdienen ist. Eine Expertin hat es so ausgedrückt: „The UK doesn’t fight over stuff that’s fluff.“ ITV zum Beispiel hat gemeint: Ja, wäre eh nett, wenn die BBC nicht so viel dürfte, aber man müsse erwachsen reagieren. Denn wenn sie das nicht machen würden, würden sie ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag nicht erfüllen. Fazit: „Wir müssen halt besser und interessanter sein.“ Das Gleiche hat auch Channel 4 gesagt. Am interessantesten war eigentlich die Antwort eines Online-Redakteurs der Times, die ja Rupert Murdoch gehört, bekanntlich kein Freund der BBC. Die Times stellt ihre Inhalte nicht mehr gratis ins Netz und sagt, sie wolle nicht mehr Hunderttausende Leser, sondern nur mehr die, die auch das Abo bezahlen. Dort hieß es: Selbst wenn die BBC ihre Internetaktivitäten einstellen würde, würde man das eigene Businessmodell nicht mehr ändern. Weil man im Internet nicht mit Institutionen in Konkurrenz sei, sondern mit jedem, der etwas Interessantes zu sagen hat.
HORIZONT: Wie wirken sich Social Media generell auf den Journalismus aus?Hahn: Man kann zum einen die Recherchen verbessern und zu gewissen Themen und Events den Twitter-Account zum Beispiel so einrichten, dass man seine persönliche Nachrichtenagentur schafft. Das heißt: Wenn ich Reporter bin, der über den Nahen Osten berichtet, kann ich alle Kollegen suchen, die vor Ort sind, alle NGOs, und diesen folgen. Damit bekomme ich die Meinungen von echten Menschen und nicht jene von irgendwelchen selbst ernannten Experten. Was mir auch die BBC-Journalisten gesagt haben: Diese Geschichten sind oft viel schneller und man hat oft Informationen aus erster Hand. Bei der BBC wartet man oft nicht mehr auf die Berichte in den Nachrichtenagenturen. Ein Journalist hat dazu erklärt: Um sich zu informieren, benutze er bereits zu 80 Prozent Twitter und nur mehr zu 20 Prozent Agenturen. Wichtig ist natürlich, immer nur Twitter als Ausgangspunkt zu nehmen und die Informationen noch einmal zu erhärten. Auch kann man über Plattformen wie Facebook Experten suchen oder auch Diskussionen anzetteln zu Themen für Jugendliche zum Beispiel. Die erreiche ich dort und nicht zuerst über Fernsehen oder Radio. Man kann auch Sendungen begleiten. Ich habe mehr Quellen und bin näher am Publikum dran.
HORIZONT: Wie weit stützen Social Media die Glaubwürdigkeit der herkömmlichen Medien? Sie leiden ja alle ein wenig drunter, nicht mehr beachtet oder als unauthentisch empfunden zu werden.
Hahn: Man kann Social Media nutzen, um näher an die Themen zu kommen, indem man etwa das Publikum einlädt, mitzureden. Und dann dem Publikum auch Platz einräumt. Das ist in England viel gebräuchlicher als bei uns. Das kann die Glaubwürdigkeit von uns allen stärken.
HORIZONT: Ist die Nutzung aus Ihrer Sicht eine Generationenfrage? Hahn: Ich glaube, es ist eine Persönlichkeitsfrage. Es gibt natürlich Verweigerer. Aber die können 30 sein, oder aber auch 60. Oft wird der Vergleich gebracht: Es gab immer Verweigerer, auch schon, als die PCs gekommen sind. Es gab Verweigerer, als die Handys gekommen sind. Jetzt gibt es Verweigerer für Social Media. Aber ich glaube, dass dieser Widerstand nach und nach bröckeln wird, wenn die Leute zunehmend erkennen, dass sie einen journalistischen Wert daraus ziehen können. Ich glaube auch, dass es für die meisten Nachrichtenorganisationen unglaublich wichtig wäre, Training für Social Media zu machen. Bei der BBC haben zwei Drittel der Mannschaft ein Training, in dem sie lernen, wie sie auf Social Media recherchieren und darauf achten, nicht unterzugehen in einer Flut irrelevanter Informationen. Auch ist wichtig, zu wissen, in welcher Sprache man mit dem Publikum kommuniziert. Wir würden nie jemand ohne Training auf Sendung lassen. Wir sollten auch keine Leute ohne Training auf Social Media lassen. Das gilt für alle Nachrichtenorganisationen gleichermaßen.
Ad Personam: Nadja Hahn (39) ist Wirtschaftsredakteurin bei Ö1 und fungiert auch als Social-Media-Beauftragte in der Radio-Information des ORF.