Multimedia-Storytelling nutzt alles, was das Web zu bieten hat, und wird dadurch für Werbung interessant
Text, Videos, Bilder, Grafiken und sonstige Elemente tauchen während des Hinabscrollens auf, überlappen andere, verändern sich und erzählen eine packende Geschichte: Multimedia-Features, ein journalistisches Erlebnis.
Unter dem Artikel sind die zehn bemerkenswertesten Scrollytelling-Geschichten verlinkt.
Seitdem die New York Times im Dezember 2012 die Onlinereportage „
Snow Fall – The Avalanche at Tunnel Creek“ veröffentlichte und damit einen Pulitzer-Preis gewann, ist das Interesse an dieser Art des multimedialen Storytelling stark gestiegen. Die multimediale Reportage über ein Lawinenunglück sorgte damals für Erstaunen darüber, was der Onlinejournalismus in Zukunft alles bieten könne.
Zweieinhalb Jahre später gibt es sie noch immer: Sie erscheinen immer regelmäßiger in den Onlineauftritten internationaler Qualitätsmedien, oft künstlerisch produziert, mit viel Mehrwert für die Rezipienten. Meist sind sie, wie es sich für eine gute Geschichte gehört, in verschiedene Kapitel gegliedert.
Die Leser werden dabei zugleich auch Hörer und Zuschauer. Schaubilder und Grafiken fordern sie auf, aktiv zu werden und die Informationen zu entdecken. In Österreich stellte der Kurier kürzlich ein Multimediadossier über den Fußball-WM-Veranstalter
Brasilien online. Sueddeutsche.de veröffentlichte vor wenigen Tagen eine
solche Geschichte zum 25. Jahrestag des Massakers am Platz des himmlischen Friedens in China.
Bisher waren es vor allem die New York Times, der britische Guardian, die Süddeutsche Zeitung und die Zeit, die diese Art des journalistischen Storytelling verwendeten. Österreichische Medien entdecken das neue Format nun ebenfalls für sich. Österreichische Beispiele sind „
Unter der Wahrnehmungsgrenze“, ein Feature über Armut in Vorarlberg der Vorarlberger Nachrichten, die Onlinedossiers der Presse über
Hypo-Skandal oder
JFK-Attentat sowie Dossiers des Kurier über den
25. Jahrestag des Mauerfalls, die
Europawahl und über
Brasilien.
Wieso sehen wir sie nicht noch häufiger, wenn sie doch als die Zukunft des Journalismus gelobt werden? Das Problem der Multimediareportagen: So schön sie sind, so aufwendig sind sie (noch) in der Produktion. Videos müssen kreiert werden, interaktive Grafiken erstellt und nicht zuletzt muss das Scroll-Erlebnis eventuell programmiert werden. Hier gibt es mittlerweile Vorlagen, die die Produktion vereinfachen. Beim Kurier habe man die Vorlage des ersten noch für weitere solcher Features adaptieren können, berichtet Nicole Kolisch, Chefin-vom-Dienst von Kurier Online. Für die Programmierung sei eine externe Programmierfirma zuständig, die aber nicht ausschließlich dafür engagiert worden sei. Aber selbst dann sei der Aufwand nicht zu unterschätzen. Bei der Presse hingegen wird jedes Dossier eigens programmiert und individuell gebaut.
Zukunft des Formats„Wenn man alle Zeit der Welt hätte, könnte man sich da wahnsinnig austoben“, schätzt Kolisch das neue Format ein. Das Feedback auf die Features des Kurier sei sehr positiv gewesen, allerdings dienten die schönen Multimediadossiers hauptsächlich dem Prestige. Sie seien vor allem bei Medieninteressierten gut angekommen und nicht unbedingt breitenwirksam gewesen. Auf die Frage, ob Multimediareportagen die Zukunft des Journalismus wären, meint Kolisch: „Nein, genauso wenig wie Zeitungsbeilagen es sind. Multimedia-Features sind ähnlich, eine sehr schöne multimediale Art einer Beilage. Für Dossiers eignen sie sich gut. Für schnelle, tagesaktuelle Nachrichten ist das Format aber definitiv nicht geeignet.“ DiePresse.com-Chefredakteur Manuel Reinartz sieht nach wie vor die Geschichte, nicht das Format im Vordergrund: „Wenn es für den Leser das ideale Leseerlebnis ist, dann machen wir es.“ Es helfe aber, dass sich alles auf ein Thema konzentriere, „ohne störende Nebengeräusche wie zum Beispiel die Navigation“. Es eigne sich besonders für starke und längere Themen.
Technische ProblemeDie Geschichten werden auf einer Vielzahl von Endgeräten rezipiert, das hat der HORIZONT-Praxistest gezeigt: Nicht überall hat man dabei die gleiche User Experience. Im Gegensatz zu PC und Laptop wurden bei unserem Test auf einem iPad mini 2 häufig die Animationen nicht angezeigt – das war bei Kurier, Presse, NZZ und auch dem Vorbild „Snow Fall“ (NYT) der Fall. Teilweise war auch die Formatierung verschoben. Die Scrollytelling-Geschichten der Süddeutschen Zeitung und des Guardian funktionieren einwandfrei. Die „Firestorm“-Geschichte des Guardian wurde allerdings auch als E-Book für Tablets herausgegeben. Die crowdfinanzierte Webdoku über junge Menschen in Europa, „Kopf oder Zahl“ (paroli), funktioniert technisch nicht optimal. Auf dem Testgerät bekamen wir eine Nachricht, dass die interaktive Webdoku nicht auf mobilen Endgeräten funktioniere. Sie ruckelte zudem an schwächeren PCs. Auch nicht immer optimal gelöst: das Scrollen. Teilweise glüht das Mausrad oder der Touch-Finger zum Ende der Geschichte. Der Kurier-Jahresrückblick beispielsweise ist lang und hat zudem noch für jeden Monat einen einzelnen Reiter. Die Presse hat ihren Rückblick auf einer Seite mit verlinkten Monaten.
Banner, Sponsoring, CrowdfundingWie lässt sich aber mit den schönen Multimediageschichten Geld verdienen? Lohnt sich die aufwendige Produktion überhaupt? „Ja, es lohnt sich auf jeden Fall!“, hört man vom Kurier. Insbesondere, da das multimediale Format wiederverwertet werden könne. Vor allem bei Anzeigenkunden sei es mit den großen Bildern und schönen Animationen sehr beliebt. Man könne dabei sehr gut auf die Kundenwünsche eingehen. Beispielsweise habe die ÖBB derzeit auf kurier.at eine Anzeige geschaltet, bei der sie sich der Vorlage der Dossiers bediene (siehe "
Railaxed" unten). Zum Vergleich: Das aktuelle Brasilien-Dossier ist komplett redaktionell gestaltet. Neben diesen neuen Werbemöglichkeiten des Formats finden sich auch klassische Anzeigen in den Multimedia-Features. Schon beim Vorbild „Snow Fall“ gab es Banneranzeigen in der Mitte, die allerdings an das Design angepasst waren. Auch Sponsoring stellt eine Möglichkeit der Monetarisierung dar. Der
Kurier-Jahresrückblick 2013 ist beispielsweise „powered by“. Eine Besonderheit stellt „
Kopf oder Zahl“ dar. Die Webdoku ist das erste österreichische Projekt, das über die Crowdfunding-Plattform
Krautreporter finanziert wurde.
Die zehn bemerkenswertesten Scrollytelling-Geschichten: Der Klassiker:
Snow Fall (New York Times)
Die Zensur:
Trauern verboten (Süddeutsche Zeitung)
Die Portraits:
Keine Zeit für Wut (Neue Züricher Zeitung)
Die Hintergrundgeschichte:
Firestorm (The Guardian)
Das Crowdfunding:
Kopf oder Zahl (Paroli)
Die Sozialkritik:
Unter der Wahrnehmungsgrenze (Vol.at)
Das Dossier:
Brasilien (Kurier)
Die Werbung:
Railaxed (Kurier; von ÖBB)
Der Datenjournalismus:
NSA files decoded (The Guardian)
Der Jahresrückblick:
Das bewegte 2013 (Die Presse)
Dieser Artikel erschien bereits am 13. Juni in der HORIZONT-Printausgabe 24/2014. Hier geht's zur Abo-Bestellung.(Simon Schütt)