Marketingprofessor und Direktor des Instituts für Marketing an der Wilhelms-Universität Münster, Manfred Krafft, sprach beim Marketing Forum Linz am 14. Oktober über die Stärke einer ‚Customer Intelligence Agency‘ in Unternehmen. Im Interview mit HORIZONT erklärt er, wie auch Medien davon profitieren können.
Manfred Krafft: Unter Customer Intelligence Agency (CIA) verstehe ich durchdachte Strukturen, Systeme, Prozesse und Aktivitäten in Unternehmen, die Wissen und Erkenntnisse über die Präferenzen und das Verhalten von Kunden sowie sogenannte schwache Signale nutzen, um auf dieser Basis nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu erlangen.
Produkte oder Dienstleistungen eines Unternehmens sind im Grunde leicht zu imitieren, wenn wir einmal von Schutzrechten in Form von Patenten oder Lizenzen absehen. Was ein Unternehmen über die Einstellungen oder Verhaltensmuster seiner Kunden weiß, ist dagegen einzigartig und kann von einem Wettbewerber kaum oder gar nicht als Wissen gesammelt werden.
Welchen längerfristigen Wert unterstellen Sie denn intelligent gesammelten und ausgewerteten Kundendaten? Oder ist dies eine immerwährende Aufgabe für Unternehmen? Hier sind zwei Dinge voneinander zu unterscheiden: Den dauerhaften Wert sehe ich für ein Unternehmen darin, dass es überhaupt in der Lage ist, relevante kundenbezogene Informationen zu sammeln und sinnvoll auszuwerten – dazu ist die Architektur und Orchestrierung der Strukturen, des Systems, der Prozesse und Aktivitäten erforderlich. Die Sammlung oder Auswertung von Kundendaten ist dabei keine einmalige oder seltene Aktion, sondern muss laufend erfolgen, da sich Einstellungen und Verhalten sehr kurzfristig verändern.
Überträgt man diese Punkte nun auf ein Medienhaus – welche Vorteile kann ein Medium durch die Informationen seiner Leser generieren? Ohne Medienspezialist zu sein, sehe ich mehrere Ansatzpunkte: Ich durfte einer großen Programmzeitschrift durch intelligentes Auswerten von Daten zur Kündigungsneigung dabei helfen, die Abwanderungsquote deutlich zu verringern. Wir testeten dabei verschiedene Angebote zur Abonnementsverlängerung aus und stellten fest, dass die Umstellung auf eine vierteljährliche Abbuchung im Vergleich zur monatlichen oder jährlichen Lastschrift die Kündigungsneigung deutlich reduzierte.
In einem zweiten Projekt in Kooperation mit einem bekannten Verlagshaus konnten wir zeigen, dass Frauen und Männer gleichermaßen kurze Abo-Kündigungszeiträume bevorzugen, und einhellig vom Verlag als Abonnenten Wertschätzung erfahren möchten. Dabei waren Frauen an exklusiven Events, Männer dagegen an einem Club-Konzept interessiert, in dem es kostenlose Zugänge zu Onlineversionen der Zeitschrift oder zu Sport tickets gibt.
Diese Erkenntnisse hätten ohne entwickelte Methoden und Experimente nicht gewonnen werden können. Weitere Einsichten sind aus der Analyse von Lese- und Kaufgewohnheiten sowie dem allgemeinen Wissen über das Verhalten von Lesern zu gewinnen. Hier möchte ich als Paradebeispiel Der Tagesspiegel nennen – diese Zeitung setzt viele der Konzepte um, die ich als Customer Intelligence einordnen würde.
Gibt es einen ‚vorgefertigten‘ Weg für Unternehmen, um das Ziel einer erfolgreichen Customer Intelligence Agency zu erreichen? Es fällt mir schwer, hier eine komplette ‚Roadmap‘ aufzuzeigen. Es sind aber einige Voraussetzungen zu erfüllen, damit das CIA-Konzept erfolgreich umgesetzt werden kann.
Welche Basis muss dann für den Aufbau vorhanden sein? Unternehmen müssen über hinreichend leistungsfähige CRM-Systeme verfügen, Daten zum Verhalten von Kunden sammeln und pflegen, die Datenflüsse in relevanten Kommunikations- und Distributionskanälen beherrschen, Führungskräfte und Mitarbeiter sind in Kundenorientierung zu schulen und es sind Kenntnisse erforderlich, die unter den Begriff der Marketing Analytics fallen.
Wie sehen Sie den Status quo im D-A-CH-Raum bezüglich Customer Intelligence Agency in Unternehmen – und in welchen Bereichen verorten Sie diesbezüglich Potenzial? Einen umfassenden Überblick über Branchen und Märkte habe ich nicht. Mein Eindruck ist, dass einige Branchen hier sehr weit sind, wie etwa die Telekommunikations-, Airline- oder Finanzdienstleistungsbranche. Aber auch innerhalb einzelner Branchen gibt es sehr deutliche Unterschiede – während manche Anbieter weiterhin auf Preisgünstigkeit setzen, erkennen viele Unternehmen, dass es für das mittel- und langfristige Überleben oder den Erfolg eines Anbieters entscheidend sein kann, überlegenes Wissen über Kunden zu haben.
Angesichts der Diskussionen über europäische Datenschutzrichtlinien: Wie sehen Sie hinsichtlich einer CIA die teils vorhandene Unsicherheit bezüglich den bestehenden Datenschutzrichtlinien auf Seiten der Konsumenten? Schön, dass Sie diese Frage stellen. Ich bin sozusagen im Nebenamt seit fünf Jahren Mitglied des Datenschutzbeirats der Deutschen Bahn, und berate dabei direkt den Gesamtvorstand, und wir beschäftigen uns auch in unserer Forschung mit Fragen der Privatsphäre. Insgesamt können Kunden in Europa sich darüber freuen, dass viel Sensibilität seitens der Unternehmen vorhanden ist, Schutzrechte der Kunden zu beachten, wobei es immer wieder schwarze Schafe gibt.
Mir scheint, dass es im Großen und Ganzen gut um den Datenschutz in Zentraleuropa bestellt ist – es ist sogar so, dass sich Kunden selbst durch ihr Verhalten in Gefahr begeben, „gläsern“ zu werden. Wenn wir beispielsweise kompromittierende Fotos von uns oder anderen unbedacht in soziale Netze hochladen oder aber Cloud-Dienste beanspruchen, die keinen ausreichenden Datenschutz gewähren, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir für einen Dritten transparent sind.
Wo sehen Sie eine CIA der Zukunft, wohin entwickelt sich diese Marketingdisziplin? Führende Unternehmen auf dem Gebiet der Customer Intelligence sind schon heute dabei, überlegene Fähigkeiten in der Analytik und Übersetzung zu individualisierten Kampagnen zu entwickeln, die sich jüngst auf Sentimentanalysen konzentrieren – zum Beispiel auf Text Mining, Spracherkennung oder Computational Linguistics. Die von mir beschriebene Gestaltung der Architektur und Orchestrierung aller Systeme, Strukturen, Prozesse und Aktivitäten stellen für die nächsten Jahre noch große Herausforderungen dar.
Was danach kommt, vermag heute wohl niemand zu sagen. Es ist auch eine Herausforderung an die Bereiche der Bildung und Forschung. Wir müssen Fachkräfte ausbilden, die in der Statistik, Informatik und im Marketing über ein Fähigkeitenbündel verfügen, das Bereiche wie Modellierung, statistische Verfahren, und „machine learning“Methoden umfasst.