Mehr Reflexion und Muße
 

Mehr Reflexion und Muße

Editorial von Birgit Schaller, Chefredakteurin (HORIZONT 42/2015)

Das Wissen der Menschen explodiert – alle 13 Monate weiß die Menschheit doppelt soviel wie davor, 1993 passierte dieser Sprung noch alle fünf und bis zum 19. Jahrhundert alle 100 Jahre. Großen Anteil an dieser Wissensvermehrung hat die Digitalisierung der Welt. Sie ist es auch, die das Tempo des Lebens spürbar vervielfacht, insbesondere für Menschen in der ersten Welt. „Bamm, bamm, bamm, Entwicklung rockt durch die Wand“, machte Marketing-Guru Dietmar Dahmen in seiner rasanten Show (siehe Bericht hier) aufmerksam auf die Sprünge, die sich vollziehen wenn sich die Menschheit weiterentwickelt, getrieben von leidenschaftlichen Erfindern wie Johannes Gutenberg, Thomas Alva Edison oder Steve Jobs. Das ist wunderbar und bereichernd.

Unmögliches wird möglich, und das heute nicht im Dauerlauf, sondern im Sprint. Computer, Smartphone, Smart Home, Internet of Things – bamm, bamm, bamm tauchen die Künder eines neuen Morgen am Horizont auf. Daten, so Dahmen, sind dafür die lebensbringende Atmosphäre auf der Erde, die Beschleuniger, die Ideen Energie und Leben einhauchen. Simplicity winkt uns freudig entgegen. „Die Maschinen haben das Leben des Bauern revolutioniert. Endlich hatte er Zeit für Schönere Dinge“, zeichnet Dahmen ein unbeflecktes Bild eines fruchtbaren Fortschritts. Geflissentlich verschweigt er, was die heute jedenorts und auf jedem Gerät mitgetrackten Daten, auch mit sich bringen: einen noch gläserneren Menschen. Und das ist vielen nicht einmal annähernd bewusst, vielleicht sogar egal, sie wollen ihre Bilder, Gefühle und Erlebnisse ungefiltert auf Facebook oder Instagram teilen. Wen sollte das schon interessieren?

Komisch trotzdem, das sich gerade IT-Spezialisten und Nerds oft aus sozialen Medien raushalten oder sie bewusst nutzen, den Algorithmus quasi anlernen. Und wie wird es erst, wenn der Kühlschrank selbstständig einkaufen geht, vielleicht noch Gesundheitstipps gibt und das tägliche Eis streicht. Wollen wir das dann auch? Dahmen erkennt richtig, dass erst die (positive und vertrauende) Emotion den Menschen in Bewegung bringt. Und viele beschleicht zumindest bei den Themen Robotik, smarte Einrichtung und Artificial Intelligence ein wenig Unbehagen. So verlangsamt der Einzelne unbewusst den Fortschritt und das mag in der heutigen hastigen Zeit, wo Wissen exponentiell wächst, Entwicklung rast und Augenblick auf Augenblick folgt, ein Segen sein. Denn Neues will reflektiert werden, um Klarheit und Weitsicht zu ermöglichen. Reflexion ist das höchste Gut, das der Mensch besitzt und jene Fähigkeit, die ihn vom Tier unterscheidet. Sie braucht Muße und die ist leider rar geworden.
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