Irrational isolierte Individuen
 

Irrational isolierte Individuen

Seb Braun/www.sebbraun.co.uk

Diese Woche geht´s bei Walter`s Weekly um kränkelnden Zeitgeist und falsche Sterne

Sozialmedien & kränkelnder Zeitgeist

Reden wir einmal von den Kehrseiten des Zeitgeistes. Beispielsweise: Ich-Besessenheit, Dünnhäutigkeit, Anspruchsdenken, Größenwahn, mangelnde Vernunft, Zynismus, wachsende Bereitschaft zu Extremismus (sowohl politisch, als auch moralisch) usw.

Irgendetwas überfordert die zeitgenössische Psyche – aber was: Zu viel Wahlfreiheit, die Entscheidungsstress mit sich bringt? Zu viele Stimuli? Ist die Welt zu komplex für uns geworden?

Die vorläufige Diagnose lautet: Verwirrung darüber, was wirklich Wert hat und was bloßer Schein ist. Mögliche Ursachen der Konfusion wären:

(i) Globalisierung. Weltweiter Warenaustausch ist ja gut und schön – aber verkraften wir wirklich so viel Welt? Wer versteht schon, was in Vorderasien oder Hinterindien vor sich geht? Warum zeigt Russland wieder imperiale Gelüste? Je mehr wir mit der ganzen Welt nachrichtenmäßig verbunden sind, umso weniger verstehen wir letztlich. Die Illusion eines smarten Weltbürgers verlangt großen Realitätsverzicht.

Das Internet ist als Medium der Weltzusammenführung gepriesen worden. Handys und Apps werden mittlerweile aber ebenso zur Menschenvermeidung eingesetzt: Man schneidet Andersdenkende, geht unmittelbaren Nachbarn aus dem Weg und wendet sich beleidigt ab, wenn statt der erwarteten Zustimmung Kopfschütteln erfolgt.

Eine Analyse von Tweets hat vor kurzem gezeigt, dass die Sprache auffallend egozentrisch ist. Es scheint, dass mobile Kommunikationsmedien diesen Trend fördern.

(ii) Die Konsumwirtschaft, die uns in infantiler Bedürftigkeit fixieren will. Der Marketingchef von Krispy Kreme erklärt den Erfolg der Marke mit ihrer anspruchsvollen Mission: “Das Leben der Leute durch die Freude an Krispy Kreme aufwerten.“ Das möchte man sich eingerahmt über die Türe hängen: Stopf’ dir Zucker & Fett ins Gesicht, und alles wird besser.

Die Werbung erzählt uns gerne, „Du bist, was Du kaufst“. Wenn ich vor lauter Krispy Kreme Doughnuts rund wie ein Rollmops geworden bin, würde ich gerne eine andere Schallplatte zur Bestätigung hören: „Gönn’ dir doch was, du armes Hascherl...“

Geschäftsmodelle dieser Art lassen sich kurz und bündig so beschreiben: Melken der Gefühlssoße. Damit ich ja nicht eine Sekunde lang von den sprudelnden Emotionsbrunnen getrennt bin. Und, bitte, kein Wort der Vernunft.

Übrigens gibt es eine neue Software, die den Gefühlsgehalt von Texten analysiert – ein gutes Instrument, um Mitarbeiter (z.B. über interne Emails) auszuhorchen.

(iii) Moralprediger. Deren hartnäckig vorgebrachte Forderung, wir Westler sollten uns für die ganze Welt verantwortlich fühlen, ist nackter Wahnsinn. Wer fördert ein so abstruses Denken? Unter anderem die Grünen, die in globalen Zusammenhängen denken möchten, seit die Klimafrage akut geworden ist. Dass sie dabei Länge mal Breite scheitern, tut ihrem Eifer keinen Abbruch. Während wir uns für den allergeringsten Energiekonsum schuldig fühlen, sollten wir den umweltschädlichen Aktionen in anderen Teilen der Welt positiv gegenüberstehen (weil wir prinzipiell schuld sind an allem, was nicht funktioniert). Eine derartige Geisteshaltung verlangt absurde psychologische Verrenkungen. Unerwartete Folge der chronischen Selbstverurteilung: Heiligenschein ist zu einem begehrten Konsumobjekt geworden.

(iv) Die Freiheit des Individuums, sich selbst zu erfinden. Fantasiedenken braucht natürlich Unterstützung, und die lässt sich in Online-Gesinnungszirkeln finden. Natürlich steht auch die New Age-Kommerzschleuder zur Verfügung, wo es Egohäute von der Stange gibt.

Anstatt die eigenen Wunschvorstellungen an die Wirklichkeit anzupassen, erwartet der Narziss, dass die Welt sich an ihn anpasst. Wie pervers dieses Verlangen ist, zeigt sich an dem Umstand, dass die ‚unerwünschte Wirklichkeit’ im Grunde lauter andere Ichs sind, die ähnliche Begehren haben. Da beißt sich das Wunschselbst in den eigenen Schwanz. Frustration ist die logische Folge, daher eine wachsende Bereitschaft zu politischen Radikalismen.

(v) Selbstspiegelung in Sozialmedien. Diese Lust hat eine ganz seltsame Nebenwirkung: Man beginnt, das eigene Selbst zu konsumieren. Was ist denn im Grunde das Produkt von Twitter, Instagram und Facebook? Empathiewallungen, die entstehen, wenn man sich in andere einfühlt. Klar ersichtlich in den Schaltflächen von FB: Neben „Like“ kann man nun geschwind und völlig unreflektiert weitere Emotionen per Knopfdruck dem Rest des Netzwerks mitteilen. Aber ein Knopf fehlt – ein „Du redest Unsinn“ (oder ein „Ich kann dich nicht ausstehen“-Button). Der ist zum Schutz der Narzisse weggelassen worden – die vertragen nämlich nicht viel Realität.

Facebook will nichts weniger, als eine kontrollierte Scheinwelt schaffen, ein Biotop, in dem sich jeder gut fühlen kann und in dem immer die Sonne des Wohlwollens scheint.

Unter den genannten Voraussetzungen wird das Ich zum ultimativen Produkt. Leider muss dieses Selbst ständig neu herausgeputzt und aufgemotzt und an aktuelle Sozialtrends angepasst werden. Das ist natürlich stressig.

In diese Richtung wird es nicht ewig weitergehen. Ein aktueller Buchtitel, der sich gut verkauft, „F*ck Feelings“, könnte eine gewisse Sättigung signalisieren. Technikgläubige versuchen, die Trance mit immer ausgefeilteren Digitalparadiesen aufrecht zu halten, z.B. betont realitätsnahen Virtual Reality-Simulationen. Eben hat eine Forscherin an der Universität von Southern California eine Art virtuelle Klinik vorgestellt. Der Patient hat den Arzt als Hologramm vor sich, braucht daher seine Kemenate nicht mehr verlassen und kann dank digitaler Tentakel schön eingebunkert leben...

P.S.: Mehr zu diesem Thema im aktuellen "bestseller" („Am Ende des Individualismus...“)

Quellen:

http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/jcom.12176/full (Journal of Communication, Oktober-Ausgabe, Artikel gratis zugänglich)

http://www.wsj.com/articles/how-do-employees-really-feel-about-their-companies-1444788408

http://www.telegraph.co.uk/technology/facebook/11935013/Expressing-your-emotions-will-make-Facebook-money.html

http://www.emarketer.com/Article/Emojis-Help-Consumers-Communicate/1013102?ecid=NL1001

http://www.theatlantic.com/health/archive/2015/09/fuck-feelings/403792/

http://www.fastcodesign.com/3052226/hologram-house-calls-and-the-virtual-health-care-of-the-future

Falsche Sterne

Die „Sunday Times“ demonstrierte kürzlich, dass sie in Kürze ein lächerliches Digitalbuch die Rankings hinaufschwindeln können. Jetzt ist Amazon der Kragen geplatzt. Sie werden über 1.100 der falsche Kritiker verklagen. Das Unwesen mit den falsch vergebenen Sternen ist zu sehr ausgeufert. Gefälschte Produktbesprechungen können massenweise billig gekauft werden. Ein US-Anbieter klaut Identitäten von Facebook, darunter sogar von zwischenzeitlich verstorben britischen Kindern, um die falschen Accounts glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Ihre Dienste boten die Gauner auf der Website Fiverr.com an, eine Plattform für Selbständige, die online arbeiten.

Bisher hat es noch keine derart große Aktion gegen den organisierten Betrug gegeben. Der Schwindel betrifft nicht nur Bücher. Die „Times“ hatte auch falsches Lob bei Elektroartikeln, TV-Geräten, Rasierern und einer Ausrüstung zur Zahnweißung aufgespürt.

Quelle:

http://www.theatlantic.com/technology/archive/2015/10/are-the-ad-blocking-wars-already-over/412327/

Weitere Beiträge von Walter`s Weekly gibt es hier

[Walter Braun]
stats