Diese Woche geht's bei Walter's Weekly um die Internet-Abhängigkeit vieler Menschen.
Die britische Aufsichtsbehörde Ofcom erhebt einmal im Jahr den Zustand der Digitalgesellschaft. Der aktuelle „Communications Market Report“
kommt zu dem Schluss, der Umgang mit dem Internet könnte bei einer wachsenden Anzahl von Bürgern zu psychologischen Problemen führen. Besonders auffällig war die hohe Zahl von Entzugsversuchen: Ein Drittel(!) der Befragten (über 2.000 Erwachsene, 500 Teenager) gab zu, mindestens einen Entwöhnungsversuch hinter sich zu haben. Knapp 60 Prozent wähnen sich von ihren elektronischen Geräten abhängig.
Im Durchschnitt verbringen Erwachsene 25 Stunden pro Woche online. Jeder Zehnte stöpselt sich mehr als 50 Mal pro Tag ins Net ein. 16 Prozent gaben an, bewusst Urlaubsorte ohne Internetanschluss zu wählen, 9 Prozent suchten gar Gegenden ohne Mobilfunkkontakt. Ein Drittel ist überzeugt, dass ein Entzugsprogramm sie produktiver und lebensfroher machen würde.
Es ist also davon auszugehen, dass in digital gesättigten Gesellschaften ein beträchtlicher Prozentsatz der Intensiv-Net-Benutzer echte Schwierigkeiten hat, von der Dauerverbindung in den Datenäther loszulassen. Das ist weniger harmlos, als es klingt.
Schizophren im AlltagFür den Experimentalpsychologen Andrew Przybylski vom Oxford Internet Institut ist unsere Alltagssituation durch und durch paradox: “Drei Viertel glauben, die Technik bringe Menschen zusammen, aber jeder Zweite meint gleichzeitig, sie kann im Weg stehen.”
Ironischerweise wird Kommunikationstechnologie eingesetzt, um direkte soziale Kontakte zu minimieren. Eine mittlerweile verbreitete Erfahrung: Man verabredet sich mit jemandem, und in Sekundenschnelle bekommt diese Person dann glasige Augen, die sich nach oben wegdrehen bzw. zum daneben liegenden Handy schielen – die Abwesenden sind prinzipiell wichtiger als die Anwesenden.
Bei Unter-25-Jährigen taucht aus diesem Grund eine neue Verhaltensweise auf, nämlich Telefonaufstapeln: Wenn eine Gruppe zusammenkommt, legen sie alle ihre Handys auf einen Haufen. Einige Pubs und Restaurant liebäugeln gar mit dem Gedanken,
Mobiltelefonsignale zu blockieren (was an sich ungesetzlich wäre).
Wie jede Besessenheit hat auch die Digitalsucht
negative soziale Folgen. Bei einem Test verpflanzte im vergangenen Jahr eine Wissenschaftlerin 35 Leute in die Wüste und beobachtete, welche Veränderungen bei den Cyberspace-Abgeklemmten vor sich gingen – das
Ergebnis war erstaunlich, von besserem Schlaf bis zu besseren Konversationen und sogar vertieftem(!) Denken.
Kein Wunder, dass es nun professionelle Angebote wie
Digital Detoxing gibt. Und
Magazinartikel, die Ratschläge zur Entgiftung geben. Ein britischer App-Entwickler wiederum hat mit
Glued ein Programm geschaffen, das Familien erlaubt, ihren Digitalkonsum wechselseitig zu checken. Es gibt natürlich längst spezialisierte
Urlaubsangebote für Digitalgestresste.
Bildschirm statt SexNicht nur sind Sozialmediensüchtige oft patschert im persönlichen Umgang – sie neigen auch dazu, das Risiko von intimen Kontakten zu meiden. Eine
neue Statistik aus den USA kommt zu dem Schluss, dass junge Leute im Alter von 20 bis 24 Jahren weniger Sex haben als die vorangegangenen Generationen. Eine völlig enthaltsame Lebensweise war in den 1960ern unter 20-Jährigen selten; die Zahl der Zölibatären hat sich seither von 2,3 Prozent auf 5,4 Prozent mehr als verdoppelt. Eine
Umfrage der Dating-Website match.com konnte den Trend nur bestätigen: Die Hälfte(!) der 20-Jährigen gab an, dass sie im vergangenen Jahr keinen Sex hatten. Kein Wunder, wenn so Viele mit einem
Bildschirm ins Bett gehen. Offenbar sind die Jungen so abgelenkt von der digitalen Scheinwelt, dass sie auf die Realwelt vergessen.
Wer nie gelernt hat, produktiv mit Langeweile umzugehen, erliegt umso leichter den allgegenwärtigen Ablenkungen. Laut der oben erwähnten Ofcom-Studie ist (bezahltes) Fernsehen-auf-Abruf stark im Kommen: Fast ein Viertel der britischen Erwachsenen gibt an, zumindest einmal pro Woche Netflix zu konsumieren; ferner ist Amazon-TV gefragt (7 Prozent sehen zumindest einmal pro Woche etwas) und Now TV von Sky (4 Prozent).
Fazit: Ein kritischer Punkt im Umgang mit der Digitalwelt, besonders mit dem Smartphone scheint erreicht. Elektronische Spiele, die bewusst designt sind, um Abhängigkeit zu erzeugen, sollten mit einer deutlichen Gesundheitswarnung versehen sein.
[Walter Braun]