Diese Woche geht's bei Walter's Weekly um Feudalwesen im Web, intellektuelles Eigentum in der Datenwolke und die Selfie-liebende Gesellschaft
Diese Kolumne macht sich jede Woche auf die Suche nach aktuellen Nachrichten und Entwicklungen der Kommunikationsbranche im angloamerikanischen Raum. Alle Beiträge gibt es
hier zur Nachlese.
Die Marketingagentur Tecmark ließ 2.000 Personen zu ihrem Handyeinsatz befragen. Die Nutzer hängen täglich im Durchschnitt 3 Stunden und 16 Minuten an ihrer Digitalbüchse – pro Woche geht also praktisch ein ganzer Tag verloren. Viele checken Emails und Facebook, noch ehe sie aus dem Bett steigen. Die Nutzer starren pro Woche rund 1.500 Mal in ihren Digitalbrunnen. Was labt sie dort so sehr?
Ende der 1960er hatte Andy Warhol georakelt, künftig würde jeder Bürger für 15 Minuten berühmt sein. Klappt nicht ganz. Alternative: sich selbst verewigen. Mädchen, die ihre Attraktivität bestätigt sehen wollen, lichten sich in neckischen Posen ab. Männer wiederum, die ihre unmittelbare Abstammung vom Affen nicht unterdrücken können, schicken Genitalfotos an vermeintliche Verehrerinnen. Passierte jüngst einem verheirateten Spitzenpolitiker, der auf eine Fotomontage eines Journalisten hereingefallen war und so den Job verlor und in aller Öffentlichkeit als Volltrottel dastand. Man(n) könnte in sein Bier weinen.
Da wird gigantische Computerleistung, die die Mondlandung locker in den Schatten stellt, in ein kleines Handgerät gepackt, damit wir was tun? Der Welt zuflüstern: „Schau her, bin ich nicht toll?“ Sie werden es nicht glauben, liebe Leser, es gibt tatsächlich eine Website namens ratemycunt (und Dutzende Epigonen wie ratemypussyandtits), wo die Eitlen dieser Welt aufgefordert sind, ihre Intimfotos öffentlich beurteilen zu lassen.
Neue Technologie ist oftmals für Pornozwecke benutzt worden (die erste Kamera, die ersten Videos), aber der Reiz besteht hier ja nicht in der erstmaligen Möglichkeit, seinen Unterleib filmisch zu verewigen: der Gag ist die (quasi) Veröffentlichung, egal, wie mager der Inhalt.
Zurzeit werden schätzungsweise 1 Million Selfies pro Tag fabriziert, auf Instagramm sind vermutlich 35 Millionen Selbstbildnisse gelagert. Sollten wir dieses Umtriebe einfach achselzuckend unter ‚unreifem Verbraucherverhalten’ ad acta legen – oder verbirgt sich hier ein verbreitetes psychologisches Problem? Der Selfie ist zu einem Kulturphänomen geworden ist, ergo lässt sich dahinter ein grundlegendes menschliches Bedürfnis annehmen, beispielsweise die Sehnsucht nach Bestätigung.
Eine Erhebung in den USA und Kanada hatte 100.000 Leute befragt, was sie sich von ihren Arbeitgebern am meisten wünschen. An der Spitze der Liste stand „Anerkennung“. Jene, die ihren Job hinschmeißen, geben als häufigsten Grund mangelnde Wertschätzung an.
Eine Nebenerwägung drängt sich auf: Wenn nun so viele Leute lieber ihr Leben aufzeichnen als es aktuell erleben, was wird dann aus der gelobten „Experience Economy“? Der österreichische Tourismus hat diesen Ende der 1990er ausgerufenen Trend fantastisch genützt – geht er jetzt zu Ende?
Eigentlich sollte die aufsteigende „Sharing Economy“ eine ähnliche Nebenwirkung haben: Die aktive Nutzung von Dingen ist wichtiger als ihr passiver Besitz. Wenn es aber ums tatsächliche Erleben geht, scheint derzeit eine Verewigung des nicht-gelebten Augenblicks drängender zu sein. Ist das der Effekt des Cyberspace, dass wir uns der eigenen Existenz zunehmend vergewissern müssen, weil sie sich unwirklich anfühlt?
(Mehr zum Thema im aktuellen HORIZONT)
Quellen:
http://www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-2449632/How-check-phone-The-average-person-does-110-times-DAY-6-seconds-evening.htmlhttp://www.psychologytoday.com/blog/inside-the-consumer-mind/201410/are-selfies-and-smartphones-the-new-comfort-foodhttp://www.nytimes.com/2014/09/28/fashion/a-defining-question-in-an-iphone-age-live-for-the-moment-or-record-it.htmlhttp://www.spectator.co.uk/features/9330842/the-miracles-of-modern-technology-mostly-used-for-the-sending-of-porno-selfies-it-seems/http://www.dailystar.co.uk/news/latest-news/400572/Psychology-study-reveals-insecurity-of-selfie-addictshttp://www.independent.co.uk/life-style/gadgets-and-tech/obsessive-selfietaking-classified-as-a-mental-disorder-what-we-can-learn-from-a-hoax-9243442.htmlhttp://mic.com/articles/86287/a-psychiatric-study-reveals-selfies-are-far-more-dangerous-than-you-thinkhttp://www.theatlantic.com/business/archive/2014/10/buy-experiences/381132/Datenwolke & intellektuelles EigentumDass es hauptsächliche Ideen sind, die unsere hochkomplexe Welt antreiben, ist wohl unbestritten. Dieser Rohstoff ist wertvoll, weshalb Urheberrechtsschutz und Patenten eine solche herausragende Bedeutung zukommt. Milliarden schlaue Telefone, die an die Datenwolke andocken, unterlaufen diesen Prozess aber massenhaft: Genehmigungen, die oft nur für ein Land/eine Region gültig wären, sind plötzlich auf die ganze Welt ausgedehnt. Designs werden schneller kopiert als die Urheberrechtsbrüche ausfindig gemacht und verfolgt werden können.
Damit tauchen völlig neue rechtliche Fragen auf. Angenommen, das selbstfahrende Auto setzt sich durch. Eine Technologie dieser Art funktioniert nur mit Hilfe immenser Datenströme. Wem gehören sie? Der Besitz eines Autos zieht nicht automatisch den Besitz der Daten, die es generiert, mit sich. Wenn sich 3-D-Printing ausbreitet, wird die Idee des Patentschutzes noch ärger durchlöchert.
Dieses Problem ist im Internet lange ignoriert worden, weil es eine implizite Absprache gibt: Angebote sind gratis, solange die Nutzer ihre Verhaltensdaten abliefern. Mit der Datenwolke werden aber Industrien verknüpft, die in der Vor-Digitalwelt nie etwas miteinander zu tun hatten. In einer App-gesteuerten Wirtschaft gehört die Maschine einer Person, das Urheberrecht an der Software einer anderen, die erzeugten Daten einer dritten Partei usw. Was nun, wenn die Schleusenwärter der Digitalwirtschaft ebenfalls Ansprüche anmelden? (Siehe den nachfolgenden Beitrag)
Quelle:
http://bits.blogs.nytimes.com/2014/10/11/cloud-computing-is-forcing-a-rethink-of-intellectual-propertyKönnte sich ein Feudalwesen im Web ausbreiten?In den USA gibt es seit einiger Zeit eine Debatte um „Internet-Neutralität“. Der Anlassfall: Das völlig überladene Web macht die Idee attraktiv, schnellere Übertragungswege an Zahlende zu vermieten. Dagegen wehren sich eine Reihe von Gruppen, die argumentieren, das Net solle für alle gleich sein.
Diese Diskussion hat gerade eben eine neue Dimension erhalten. Die junge israelische Firma Shine Technologies hat ein System namens „AdSight“ entwickelt, das Mobilfunkunternehmen, die die digitalen Übertragungswege besitzen, erlauben würde, an einkommensgenerierenden Datenflüssen wie etwa der Werbung, mitzuschneiden. Technisch ist das möglich, da Shines Software in der Lage ist, Werbung im Datenstrom zu identifizieren und herauszufinden, wer sie abschickt und wer sie anklickt. Dieselbe Technik würde den Datenüberträgern sogar erlauben, gewisse Werbung zu blockieren.
Falls sich dieses Denken durchsetzt, könnte das Web der Zukunft völlig anders aussehen: Der durchschnittliche Nutzer rumpelt auf Feldwegen dahin, während die finanziell Gestopften auf digitalen Schnellstraßen dahindüsen. Kommerzielle Kommunikation könnten sich dann eher nur die gut gepolsterten Firmen leisten. In Europa ist Diskriminierung zwischen Inhalten bzw. Arten des Online-Verkehrs verboten, in Amerika wird sie aber diskutiert.
Es ist wohl anzunehmen, dass ein Feudalwesen im Net die Innovationsfreudigkeit einbremsen würde...
Quelle:
http://online.wsj.com/articles/will-ads-become-the-next-net-neutrality-battle-1413157472http://www.getshine.com/[Walter Braun]