Kolumne von Walter Braun
Fassen wir zusammen: 1.: Facebook ist die größte Nachrichtenschleuse der Welt. 2.: Facebook hat öffentlich kundgetan, kein Medienunternehmen zu sein. 3.: Facebook ist vorgeworfen worden, Redakteure würden den Newsfeed politisch manipulieren. 4. Facebook hat die Redakteure gekündigt und an deren Stelle Software gesetzt. 5.: Die Rechenverfahren haben vom Start weg Auswahlfehler begangen. 6.: Facebook hat strenge, interne Veröffentlichungsregeln, die nicht immer transparent sind.
Jüngster peinlicher Vorfall war die Zensur eines der wichtigsten Journalistenfotos des 20. Jahrhunderts, das ein panikergriffenes, völlig nacktes Mädchen zeigt, das vor einem Napalmangriff davonläuft. Nick Úts schockierendes Bild trug vermutlich dazu bei, den unsinnigen Krieg in Vietnam zu beenden. Trotzdem beharrte Facebook auf Zensur. Aus ihrer Sicht logisch, da ein Computer nicht leicht zwischen einem ikonischem Foto und Kinderpornographie unterscheiden kann. Aftenposten, die größte norwegische Tageszeitung, veröffentlichte daraufhin einen offenen Brief ihres Chefredakteurs an FB-Chef Mark Zuckerberg. Sein Vorwurf: Machtmissbrauch. Klassische Medien, so das Argument, müssten jede Meldung, die sie publizieren, überdenken. Eine schwerwiegende Verantwortung, der sich das kalifornische Unternehmen entzieht, indem diese Aufgabe an Rechenverfahren übertragen wird.
Ein Sturm im Teetässchen? Leider nein. Das größte Nachrichtenvermittlungsmedium der Welt erweist sich redaktionell als furchtbar inkompetent. Es kommt noch schlimmer. Seit Facebook das Feature „Instant Articles“ eingeführt hat, sind viele große Verlagshäuser aufgesprungen. Dann bemerkte die Sozialdrehschleuder aber, dass private Nachrichten im Durchschnitt häufiger angeklickt werden als Medienmeldungen. Der Klick ist aber entscheidend in einem Umfeld, das für Konsumenten gratis ist und von der Werbung finanziert wird. Also hat Facebook den Medientrichter enger geschraubt. Ergebnis: Ein Reichweitenrückgang zwischen sechs Prozent (Buzzfeed) und existenzgefährdenden 30 bis 50 Prozent bei Forbes, Axel Springer und Newsweek.
Andersrum betrachtet: Von dem, was ein Medium produziert, kommen nur zehn bis 20 Prozent durch den Filter. Inhalt weg, Leser weg. Diese dünne Suppe ergibt keine vollwertige Medienmahlzeit. Filter engen die Welt ein und verstärken bestehende Vorurteile. Am Tag nach der EU-Abstimmung durchstöberte Tom Steinberg, Internet-Aktivist und Gründer von mySociety.org, seinen Facebook-Nachrichtenstrom nach Leuten, die den Brexit feiern. Es fanden sich keine, trotz aufmerksamer Suche. Der Filter sei so stark, klagte er, dass er das Land in zwei Hälften reiße. Zwei Hälften, die nichts mehr voneinander wissen, wenn Nachrichten bevorzugt über Apps konsumiert werden.
Braucht es ein gerichtliches Urteil, um festzustellen, ob Facebook dieselbe redaktionelle Sorgfaltspflicht zu erfüllen hat wie klassische Medien?
[Walter Braun]