Der Spion im eigenen Haus
 

Der Spion im eigenen Haus

Die Segnungen der vernetzten Kommunikationstechnik sollten befreiend wirken. Die telematischen Tentakeln erweisen sich jedoch als zwiespältig. Computerprogramme, Überwachungskameras, Satellitenfotos, Bluetooth-Technik - zu Hause, auf den Straßen, am Arbeitsplatz: Kein Winkel der modernen Welt bleibt unüberwacht. Fühlen Sie sich noch wohl?

Die Segnungen der vernetzten Kommunikationstechnik sollten befreiend wirken. Die telematischen Tentakeln erweisen sich jedoch als zwiespältig. Computerprogramme, Überwachungskameras, Satellitenfotos, Bluetooth-Technik - zu Hause, auf den Straßen, am Arbeitsplatz: Kein Winkel der modernen Welt bleibt unüberwacht. Fühlen Sie sich noch wohl?



Stellen Sie sich vor, Sie räkeln sich verschlafen im Bett, das Handy klingelt, ein lieber Mensch sagt "Guten Morgen!" und noch einiges, was nicht für andere Ohren bestimmt ist - und die ganze Welt hört zu. Nein, wir befinden uns nicht bei "Big Brother", denn die Belauschten wissen nichts von dem elektronischen Spion, der ihre Stimmen aufnimmt, und sie ahnen auch nichts von dem Hacker, der ihr intimes Gespräch live in den Äther hinausstrahlt. Dies passierte vergangenen Sommer in Kanada. Gut, die Sache war harmlos und nur mit dem altmodischen, analogen Mobiltelefon möglich, das unverschlüsselt über eine Radiofrequenz funkte. Doch das Beispiel zeigt, dass unser durchschnittliches Verbraucherwissen über elektronische Überwachungsmöglichkeiten der Wirklichkeit weit hinterherhinkt. Gruselig an den neuen Lauschmethoden ist, dass sie unsichtbar und allgegenwärtig sind. Der unbefangene Bürger wird sich vielleicht fragen, wer wohl Interesse haben könnte an banalen Privatgesprächen: Potenzielle Potentaten? Neurotische Nachbarn? Eifersüchtige Ex-Liebhaber? Cholerische Chefs? Geheimdienste? So selten solche Fälle eintreten mögen, beunruhigend ist, dass sie möglich sind. Die regeste Nachfrage kommt von den Vermarktern der Konsumgüterindustrie, deren Neugierde zwar nicht gefährlich, doch zunehmend lästig ist.





Verhältnismäßig sicher können sich die Bürger Europas wähnen, deren amtlich erhobene Daten bis dato nicht öffentlich zugänglich sind. Ganz im Gegensatz zu den USA, wo damit ein schwunghafter Handel betrieben wird. Ein Reporter des Wirtschaftsmagazins Forbes beauftragte einen der vielen neuen Daten-Detektive, so viel wie möglich über ihn herauszufinden. Kurz darauf war der Journalist sprachlos. Dan Kohn und seine Agenten von Docusearch.com hatten allein mittels Telefon und PC reichlich intime Details über den Forbes-Mann herausgefunden - sein Guthaben auf der Bank, sein Gehalt, seine Miete, geheime Telefonnummern und sogar den Mädchenamen seiner Mutter. Über das Web zugängliche, miteinander verbundene Datenbanken plus kluge Suchprogramme plus geringe Schutzmaßnahmen ermöglichten dieses Durchleuchtungskunststück. Allerdings nur in den USA. Eine mächtige Lobby drängt darauf, diesen Zustand auch so zu belassen, aber ihre Gegnerschaft wächst täglich, seit immer mehr Menschen am eigenen Leib verspüren, wie unangenehm es sein kann, von Datenbanken ausgezogen zu werden. Unversöhnliche Gegensätze stoßen aufeinander, wenn z. B. Versicherungen unbedingt herausfinden wollen, ob ihren versicherten Schäfchen ein verfrühtes Ableben auf Grund einer genetischen Disposition droht, während die Betroffenen weder ihren Versicherungsschutz verlieren noch ihre somatische Veranlagung bekannt geben wollen.





Spione aus 0 und 1


Ein paar Bereiche, wie uns die digitale Neugierde auf den Leib rückt:


* Super-Mini-Kameras - Videokameras in Chipgröße sind nicht bloß technisch möglich, sondern auch erschwinglich. Führend ist hier die US-Firma Photobit, die ihre Bildsensoren ursprünglich für die NASA entwickelte. Binnen zwei Jahren werden Mobiltelefone auf den Markt kommen, die solche elektronische Augen besitzen und Bilder übertragen können. Welcher Effekt wird entstehen, wenn Millionen solcher winziger Beobachter über die Welt verteilt und mittels Datenfunk ans Net angeschlossen sind? Wie steht es mit Recht am eigenen Bild? Ist die Privatsphäre schon überschritten, nur weil ich mein Konterfei öffentlich herumtrage?


* Videokameras - dass Flughäfen, Bahnhöfe, Kaufhäuser, Tiefparkgaragen und Villen mit Videokameras überwacht werden, daran haben wir uns schon gewöhnt. Aber wie das Beispiel Großbritanniens zeigt, lässt sich der Vormarsch der Überwachungskameras nicht stoppen. Um Straßenkriminalität besser bekämpfen zu können, wurde eine Unzahl von Kameras installiert, die öffentliche Plätze und Straßenzüge überwachen (Details dazu bei der kritischen Website spy.org.uk). Manchmal weist ein Schild "CCTV" (closed circuit television) darauf hin. Den Bürgern ist's ohnehin egal, weil in den überwachten Gebieten tatsächlich Diebstähle und Überfälle signifikant zurückgegangen sind. Der Sender BBC bietet auf seiner Website 80 Stau-Kameras für den Londoner Verkehr an. Doch diese Technik lässt sich nicht nur passiv nutzen - verbunden mit einer Erkennungssoftware kann gezielt nach Personen (oder Autonummern) gefahndet werden. Ans Web angeschlossen, lassen sich so aus der Ferne riesige Areale überwachen. Wir werden uns mit dem Gedanken abfinden müssen, in Städten nie mehr unbeobachtet herumwandern zu können.


* Spionagesatelliten und Bluetooth - eine neue Generation kommerziell erhältlicher und verwertbarer Satellitenbilder kommt auf den Markt. Bisher kamen nur militärische Dienste in den Besitz von Himmelsbildern, die Objekte mit einer Auflösung von einem Meter (= das kleinste sichtbare Ding) zeigen. Nun hoffen Firmen wie Ikonos, Orbimage, EarthWatch oder Space Imaging auf ein Milliardengeschäft. Am 1. Mai beendeten die Amerikaner ihre Praktik, Signale von GPS(global positioning system)-Satelliten zu verzerren, wodurch auch Privatpersonen möglich wird, ihre exakte Position auf diesem Globus zu bestimmen. Dazu braucht man nicht einmal einen Satelliten. Eine neue Technik namens Bluetooth erlaubt elektronische Geräte über kleine lokale Radios zu vernetzen. Das wird die Kommunikation von Mensch zu Ding und Ding zu Ding ungemein erleichtern. Fast 2000 Unternehmen haben sich bereits in einer speziellen Interessengruppe (SIG) zusammengefunden, um die Technik abseits von Patentansprüchen gemeinsam nutzen zu können. Das erste Handy mit Blauzahn-Chip wird Ende des Jahres von Ericsson (T36) erhältlich sein. Technikbegeisterte Marketer setzen darauf, damit Konsumenten orten und mit speziellen Angeboten versorgen zu können - das Einverständnis der Konsumenten vorausgesetzt.


* Arbeitsplatzüberwachung - in Europa und in den USA ist eine Flut von Überwachungstechniken auf den Markt gekommen, die Computer und Telefone beobachten. Minikameras, Abhörwanzen, Überwachungssysteme für Tastaturen. Hauptsächlich ist es aber Software, die die Arbeit leistet. E-Mail-Filter nach Stichworten sind weit verbreitet. Das Programm SilentRunner von Raython Systems arbeitet mit einem komplexen Algorithmus, der Auffälligkeiten im Gebrauch interner Netzwerke aufdecken kann. Bei wichtigen Posten werden Bewerber schon vor Arbeitsbeginn auf ihre physischen, psychischen und kulturellen Eigenschaften hin durchleuchtet. Alkohol- und Drogentests sind in den USA bereits Standard und werden auch an Eltern vermarktet, die ihren Sprösslingen diesbezüglich nicht trauen. Alle diese Überwachungs- und Ausspähmethoden finden nun auch in Firmenspionage Anwendung. Firmen wie QVtech oder Disappearing bieten nun Lösungen an, die E-Mails sicherer machen sollen (zumindest jene der Firmenchefs), indem Botschaften nicht nur verschlüsselt, sondern nach einer festgesetzten Zeit auch automatisch gelöscht werden. Profi-Spione wird das nicht abhalten.


* Cookie & Co - das Web ist zu einer offenen Schleuse für trojanische Pferde geworden. Bei jedem Besuch einer Website wandern Cookies (kurze Befehlszeilen) auf die Festplatte des Nutzers, detto alle Bilder, Logos und Schriftzüge. Microsoft hat angekündigt, den Explorer-Browser künftig mit einem Attribut versehen zu wollen, das Cookies nur von erstrangigen Werbetreibenden akzeptiert (z. B. Ms selbst, AOL und Yahoo), alle Cookies von dritten Parteien aber zurückweist. Das heißt, Werbetreibende müssten künftig immer bei AOL oder Yahoo anklopfen. Um Profile der Nutzer zu erhalten, wollen manche Unternehmen offenbar nicht mehr warten, bis Kunden zu ihren Web-Seiten vordringen, sondern wollen das Verhalten gleich an der Quelle ausspähen. Im Net-Jargon werden solche Programme in Anlehnung an den Film E.T.-Anwendungen genannt, wo der Außerirdische (E.T.) nach Hause telefonieren will. Genau das tut z. B. zBubbles der Firma Alexa, ein Programm, dem kürzlich das Magazin Time einen langen Artikel widmete. zBubbles spioniert auch, wenn der User gar nicht am Einkaufen ist, und sendet die entsprechenden Daten eigenständig ab (wenn der Computer online ist). In dem erwähnten Artikel checkt der Tester eine Flugreservierung seiner Tochter, worauf das Spionageprogramm flugs die Flugnummer in den Äther weiterleitete. Daten dieser Art haben kommerziellen Wert, da sie Werbetreibenden erlauben, Angebote spezifischer zu plazieren. Das ist harmlos, beinhaltet aber Missbrauchspotenzial - der Gedanke ist nicht angenehm, beim Besuch einer HIV-Site beobachtet zu werden, wobei dem Beobachter soviel Potenzial zur Verfügung steht, dass die Identität des Users gelüftet werden kann. Wenn künftig tragbare Computer oder Handys zum Einkaufen genutzt werden, dann wird nicht nur dieser Vorgang transparent, sondern auch der Standort des Betreffenden. Vielleicht sollten wir uns mit dem Gedanken vertraut machen: Internet-Surfen ist nicht länger ein privates Ereignis.



Ist Privatsphäre eine Frage des Preises?


Bedrohungsszenarien aufzuzeigen ist eine Sache, fruchtbarer ist es, über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken. Weder überzogene Schutzmaßnahmen, die jeglichen E-Commerce abwürgen, noch ein Wild-West-Internet ohne Regeln sind zukunftsträchtig. Vermutlich ist eine vierteilige Strategie vonnöten:


1) Selbstregulierung - Alle Web-Unternehmen sollten dazu übergehen, ihren Umgang mit User-Daten zu deklarieren, einfach zugänglich und in klarer Sprache.


2)Transparenz - Konsumenten muss Einblick in die Daten gewährt werden, um sie zu korrigieren oder sensible löschen zu lassen.


3) Wahlfreiheit - Web-Firmen sollten nicht anonym Daten erheben, sondern um Erlaubnis fragen, zumindest bei kritischen Daten (z. B. Finanzen, sexuellen Präferenzen). Die Verknüpfung anonymer Profile mit Personendatenbanken soll zustimmungspflichtig sein.


4)Fair Play - diese drei Regeln sollten Gestz sein, überwacht sowie Verstöße geahndet werden.



Nicht nur Technik allein


Die kürzlich veröffentlichte Software P3P (privacy preferences project) erlaubt, User zu definieren, welche Daten sie bei Website-Besuchen freigeben; aber der Nutzer wird nur gewarnt, außer Ja oder Nein besitzt er keine Wahlmöglichkeiten. Natürlich ist das nur ein Kompromiss, denn die Web-Firmen stehen auf dem Standpunkt, dass es ihr gutes Recht ist, für Gratisangebote eine gewisse Gegenleistung (in Form persönlicher Daten) zu erhalten. Die Politik wird nicht umhin kommen, Rahmenbedingungen des Erlaubten festzusetzen. In der Zwischenzeit wird der Markt neue Lösungen suchen. Da jeder Nutzer eine digitale Datenspur hinterlässt, wird der Handel mit Daten transparenter gemacht werden müssen. Dabei ist der Einzelne gar nicht so machtlos. Die führende Werbefirma im Web, DoubleClick, versuchte, Ängste zu beschwichtigen, als sie die größte Datenbankfirma der USA, Abacus, kaufte. Prompt trat natürlich der Fall ein, dass DoubleClicks Online-Profile mit existierenden Haushaltsdaten verknüpft wurden. Ein User-Aufschrei und ein Kurssturz an der Börse waren ein heilsamer Schock. Geradezu offensiv will die Hamburger Firma Cocus das Thema angehen: Wer sich auf der Website Ifay.com registrieren lässt, kann seine Daten dort zu verkaufen versuchen. Wer weder der Wirtschaft traut, noch auf den Gesetzgeber warten will, kann natürlich zur Selbsthilfe greifen. Fragebögen im Internet, die Zugang zu Gratisangeboten versprechen, falsch ausfüllen. Verschiedene digitale Identitäten schaffen (siehe

z. B. freedom.net, enonymous.com, ezlogin.com, id-arts.com, privaseek. com). Den Browser so einstellen, dass er Cookies nicht akzeptiert (obwohl dann Surfen holprig bis unmöglich wird). Letztlich wird es aber auf die Erkenntnis hinauslaufen: Geschützte Privatsphäre ist ein teures Vergnügen - wer im Web Bequemlichkeit und Gratisangebote will, muss dafür mit einer gewissen Nacktheit bezahlen. (br)




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