Cyborg-Künstler kann Farben hören
 

Cyborg-Künstler kann Farben hören

Der in Spanien lebende Künstler Neil Harbisson hat sich einen Sensor implantiert und sieht sich als erstes Mischwesen aus Organismus und Maschine. Auf der re:publica-Konferenz in Berlin begeisterte er das Publikum.

Elektronisches Auge oder einfach „Eyeborg“ nennt der 31-jährige Neil Harbisson den kleinen Sensor, den er an einer Halterung, die zu seinem Hinterkopf führt, vor der Stirn trägt. “Eyeborg” sieht für Harbisson, der von Geburt an an Achromatopsie leidet und die Welt nur in Schwarz-Weiß-Kontrasten wahrnehmen kann. Wobei „sehen“ nicht ganz richtig ist. Denn Eyeborg wandelt die Farben der Welt in Töne um (Rot ist z.B. ein „F“) und lässt Harbisson diese Farben hören. Allerdings nicht im Kopfhörer, die Töne nimmt Harbisson mittels Implantat direkt über seine Schädelknochen als Vibrationen wahr.

„2004 haben wir den Eyeborg entworfen, der mir erlaubt zu hören, was vor mir zu sehen ist“, erzählt Harbisson in einem viel beachteten und beklatschten Vortrag auf der Internet-Konferenz re:publica, die dieser Tage in Berlin stattfindet (HORIZONT berichtete).

Chip-Implantat im Körper

“Als Cyborg habe ich mich das erste Mal gefühlt, als ich im Traum Farben hörte”, sagt Harbisson über seine Selbstdefinition. Heute würden bereits Menschen mit einem Herzschrittmacher oder einem Smartphone als Mischwesen aus Organismus und Maschine bezeichnet werden, für ihn wäre die Grenze aber erst dann überschritten, wenn die Technik die Fähigkeiten seines Träger verbessert und er sie als Teil seines Körpers sieht. Ethische Bedenken, die Kritiker beim Verschmelzen von Mensch und Maschine haben, hat Harbisson keine.

Mittlerweile hat er durchgesetzt, dass er das elektronische Gerät auf seinem Passfoto tragen darf und damit offiziell als Teil seines Körpers gilt. Demnächst will er es sogar so weit treiben, dass der Chip, der die Berechnungen durchführt und den er im Nacken trägt, sich durch seine eigene Körperenergie mit Strom versorgt und keinen Akku mehr braucht. „Dann bin ich nicht mehr von Elektrizität abhängig“, so Harbisson.

Cyborg Foundation kämpft für Rechte


Es ist faszinierend, wie der gebürtige Ire seine Sinne mit Hilfe von Eyeborg weiterentwickeln konnte. „Ich kann Infrarot und Ultraviolett hören und kann so etwa entdecken, ob Überwachungssensoren im Raum sind“, erzählt er dem staunenden re:publica-Publikum. Seine Partnerin Moon Ribas hat er mit dem Bodyhacking, wie die Erweiterung des menschlichen Körpers um technische Elemente auch genannt wird, schon angesteckt. Sie hat sich etwa die “Earborg”-Ohrringe gebaut, die die Geschwindigkeit von Leuten misst, die an ihr vorbeigehen. Vibrationen verraten ihr, wie nah und von welcher Seite Personen an sie herankommen - laut Ribas könne man so mit geschlossenen Augen durch eine Menschenmenge manövrieren.

Mit der 2010 gegründeten Cyborg Foundation wollen sie künftig mehr Leute dazu bewegen, ebenfalls zu Cyborgs zu werden und außerdem die Rechte dieser Menschen vertreten. „Es gibt so viele Leute, die ihre Sinne erweitern und zum Cyborg werden wollen“, so Ribas.

Für Kunst und Blinde

Hauptanwendung finden die elektronischen Sinneserweiterungen der beiden derzeit in der Kunst. Harbisson etwa übersetzt Reden von Martin Luther King oder Adolf Hitler in bunte Bilder. „Hitlers Reden sind sehr bunt, weil er viele verschiedene Tonlagen verwendet, während Martin Luther King sehr violett ist“, so Harbisson. Oder er vermisst Städte ausgehend von deren Geräuschkulisse nach ihren dominanten Farben (Wien ist etwa gelb/weiß, Lissabon hellblau/gelb). Außerdem macht er Songs aus den Gesichtern von Menschen oder kreiert Gerichte nach den Farben von Popsongs. Ein neues Projekt namens “Earborg” soll außerdem blinden Menschen ermöglichen, ebenfalls Farben hören zu können.

Problematisch ist Harbissons Eyeborg in sozialer Hinsicht: Die meisten Menschen seien mit der Technologie nicht vertraut und würden glauben, dass Harbisson sie gerade filmt. Auf ähnlichen Widerstand stößt derzeit Googles Daten-Brille Glass, die per Sprachbefehl ein Foto schießen kann oder ohne äußeres Anzeichen Videos filmen kann - für viele ein Brechen mit Datenschutz und Privatsphäre. Ein Freund von Harbisson hat das Problem auf sehr einfache Art und Weise gelöst und ihm ein T-Shirt geschenkt, auf dem steht: “I´m not filming.”



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