Cyberspace realistisch betrachtet
 

Cyberspace realistisch betrachtet

Seb Braun/www.sebbraun.co.uk
Auch Smartphones belasten die Umwelt.
Auch Smartphones belasten die Umwelt.

Diese Woche geht's bei Walter's Weekly um die negativen Auswirkungen der digitalen Revolution.

Es wäre an der Zeit, die negativen Auswirkungen der Digitalwelt systematischer zu untersuchen. Das Bild, das wir uns vom Datenraum machen, erscheint an vielen Stellen korrekturbedürftig. Etwa der Glaube, der Cyberspace stelle eine saubere, postindustrielle Welt ohne schädliche ökologische Nebenwirkungen dar. Ein paar aufklärende Lichter inklusive Schatten:

Scheinwerfer 1: Die Behauptung, die Digitalwelt würde uns beim Energiesparen helfen, ist eine gigantische Illusion. Hinsichtlich sauberer Energie ist die Mobilfunkwelt hinterwäldlerisch. Auch eine Reihe anderer Vorhersagen hat sich als falsch erwiesen, etwa die These, berufliche Flüge würde durch Videokonferenzen ersetzt werden – die Flugkilometer steigen von Jahr zu Jahr. Server-Farmen verschlucken Energie wie Kleinstädte. Selbst das harmlose Handy ist ein Energiefresser, wenn man zum regelmäßigen Aufladen noch das Herumschieben von riesigen Datenmengen (z.B. täglich Milliarden von Bildern in die Datenwolke hinaufladen) addiert.

Ein stark genutztes Smartphone könnte, einer älteren Schätzung zufolge, pro Jahr so viel Energie verschlingen wie ein, zwei Kühlschränke. Es ist also durchaus davon auszugehen, dass Medientechnologien die Umwelt belasten. Statt ein Handy als ‚sauber‘ anzusehen, wäre es angesichts der industriellen Produktionskette zutreffender, sich Mobiltelefone mit einem kleinen Auspuff versehen vorzustellen, meint Professor Richard Maxwell.

Ganz zu schweigen von der grassierenden Wegwerfkultur. Als Gegenmaßnahme gibt es in Holland ein Fairphone, das sich um bessere Umweltstandards bemüht. Auch Apple könnte mehr für Recycling oder Reparatur älterer Versionen tun, anstatt iPhone-Gläubige mit Pseudo-Innovationen zu beglücken.

Scheinwerfer 2: Der Trend zu alles-digital ist zumindest im Falle des Buchs eingebremst. Eine aktuelle Erhebung des angesehen Pew Research Center kam zu dem Schluss, dass der Konsum von Digitalbüchern nicht länger auf Kosten von Print geht. Fast 40 Prozent der Amerikaner lesen ausschließlich gedruckte Bücher, wogegen bloß 6 Prozent exklusiv Digitalbücher konsumieren.

Scheinwerfer 3: Der völkerverbindende Effekt von Sozialmedien verschwindet unter der Hassorgie. Eine begehrte Plattform wie Instagram sah sich gezwungen, ein neues Programm einzuführen, mit dem man bösartige Kommentare blockieren kann – andernfalls die populäre App unter einem Ansturm von Trollen lahmgelegt zu werden droht.

Scheinwerfer 4: Ständig an Sozialmedien angedockt zu sein, beeinträchtigt das Gedächtnis und die Konzentration, lähmt jede Wachheit der Umwelt gegenüber. Facebook-Konsum wurde jüngst mit zunehmenden Depressionen in Zusammenhang gebracht. Eine Sozialmedien-Entgiftungstherapie wird mittlerweile als gesundheitsfördernd erachtet.

Versuchung unter der Tarnkappe

In Platons epochalem Werk Der Staat kommt ein berühmtes Gedankenexperiment vor: Was wäre, wenn wir eine Tarnkappe hätten – würden wir uns dann immer noch moralisch verhalten? Wie bei Platon der Ring des Gyges, bietet die Digitalwelt Anonymität. Surfer können so tun, als wären sie unsichtbar. Entsprechend entgleist das Verhalten. Was Sozialplattformen ein massives Problem beschert und erklärt, warum überall Filter auftauchen. Die Folge: Je mehr wir der Versuchung erliegen, die Wirklichkeit via Cyberspace wahrzunehmen, umso schmäler wird unser Bild von der Welt. Daran wird sich nichts ändern, solange wir den Fehler begehen, die Digitalsphäre als eine Verlängerung der normalen Umwelt zu betrachten.

Vom unreifen Umgang mit Mobiltelefonen war schon vor eineinhalb Jahrzehnten(!) die Rede. Was hat sich seither gebessert? Absolut nichts – die Funktionalität der elektronischen Allzweckgeräte hat zugenommen, und mit ihr die Versuchung, sich immer öfter und immer länger eine elektronische Tarnkappe überzustülpen und von der Umwelt zu isolieren. Mit einem Buch in der Hand war das zumindest noch elegant; gekrümmte Rücken, die sich über Minibildschirme bücken, vermögen nicht zu entzücken…

[Walter Braun]
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