Bei einem ‚immersiven Theater‘ tauchen Gäste tief in das Geschehen ein und werden selbst Teil der Handlung. Das hat auch die Werbebranche für sich entdeckt.
Es hätte ein schöner Abend werden sollen, bei der Weihnachtsfeier der psychiatrischen Anstalt „Erbse“. Rund 100 Gäste sind eingetroffen, der Weihnachtsbaum ist geschmückt, die Patienten haben ein Krippenspiel vorbereitet – doch dann geschieht das Unerwartete: Ein grausamer Mord, der das Fest ruiniert und die Gäste in eine verzwickte Situation bringt: Sie müssen mit den Patienten sprechen und den Täter finden, bevor es zu weiteren Zwischenfällen kommt.
Willkommen in der Welt von Nesterval – ein fiktives Theateruniversum, bei dem die Gäste in das Geschehen eintauchen, indem sie direkt mit den Schauspielern interagieren, um ein Problem zu lösen. Eine Schnitzeljagd mit professionellen Schauspielern, bei der jedermann für ein paar Stunden dem Alltag entfliehen kann. Entwickelt wurde das Konzept von einem gewissen Martin H., der in der Öffentlichkeit nur unter dem kryptischen Künstlernamen „Herr Finnland“ auftritt.
Nach einem Tourismuswirtschaft-Studium in Salzburg und Berufserfahrung in der Produktion beim Life Ball und der Agentur perfectprops nahm er im Winter 2011 an der Geburtstags-Schnitzeljagd eines Freundes teil. „Ich fand das spannend, dachte mir aber zugleich: das kann ich besser“, sagt Finnland. Gesagt, getan: Noch im selben Jahr organisierte er mit einer Handvoll Schauspieler ein Event, das als Startschuss für jenes „immersive Theater“ gilt, das unter Wiener Hipstern heute der letzte Schrei ist.
Im nächsten Jahr folgte der erste Schritt in die Kommerzialisierung: Für die Sonderausstellung „Parallelwelt Zirkus“ der Kunsthalle Wien veranstaltete Finnland mit seinem Team ein Abenteuer, das in eine Zirkuswelt entführte. Drei Mal hätte das Event stattfinden sollen, am Ende wurde es über ein halbes Jahr hinweg zwölf Mal gespielt. Im Sommer 2012 gab es die erste Eigenproduktion mit hundert Teilnehmern im Wiener Prater. Was macht man, wenn sich abzeichnet, dass man gerade einen neuen Trend gebärt?
Finnland nahm sich zunächst eine Auszeit und fuhr ein Jahr lang 14.000 Kilometer mit dem Fahrrad durch Europa und Asien. „Dabei wurde mir klar, dass ich jedem Menschen eine kleine Auszeit ermöglichen möchte“, sagt Finnland. Er kehrte nach Wien, die Stadt mit der florierenden Theaterszene, zurück und machte sich an die Arbeit.
Partner für Marketing und PRVon Anfang an waren die Nesterval-Abenteuer ausverkauft; wer heute ein Ticket haben will, muss sich in der ersten Minute nach Verkaufsstart anmelden, sonst ist es zu spät. Das Nesterval-Team professionalisierte sich mit den Jahren, es mietete ein Lager für die Requisiten und lagerte den Ticketverkauf aus. Bisher gab es über 9.000 Teilnehmer, 42 Stücke hat das Team erschaffen, davon sind dreißig sogenannte Auftragsarbeiten.
Denn neben den eigenen Stücken, bei denen die Kunden Tickets direkt beim Veranstalter kaufen, setzt das Team auch auf Kooperationen. Hier sind Unternehmen die Auftraggeber, die das Mitmach-Theater für interne oder externe Kommunikation verwenden. Von Swarovski, der Österreichischen Nationalbank und der Immofinanz wurde das Konzept zum Beispiel intern für Teambuilding eingesetzt; der Radiosender FM4 ließ ein Abenteuer für die Hörer veranstalten – die Tickets konnte man nicht kaufen, sondern man musste sie gewinnen.
Für WienTourismus ist das Team im November 2016 durch acht europäische Städte gereist; hier wurde Experten aus der Reisebranche – Reiseveranstalter, Reisebüros, Travelblogger und Reisejournalisten – spielerisch ein Gefühl von Wien vermittelt. „Je mehr Freiraum uns der Kunde bei der Gestaltung gibt, desto besser wird es“, sagt Finnland. Als Beispiel nennt er Infoscreen, dessen Maskottchen „Bruno“ fiktiv entführt wurde und deshalb drei Wochen lang nicht auf den Screens in den Öffis zu sehen war.
„Dank der Auftragswerke bilanzieren wir positiv“, sagt Finnland. Bei Nesterval erhalten alle Schauspieler eine Gage; die Ticketpreise der Eigenproduktionen werden so kalkuliert, dass sie kostendeckend sind. Dadurch dienen sie auch als Werbevehikel, durch die Auftragsarbeiten zustande kommen. Die Kooperationen mit Großkunden kosten zwischen 7.500 und 10.000 Euro, die Buchung für eine Privatfeier 3.000 bis 3.500 Euro.
Rückkehr zu den AnfängenAktuell arbeitet das Team unter anderem an einem Abenteuer namens „Zirkusblut“, das auf der ersten Auftragsarbeit mit der Kunsthalle Wien basiert. Inhaltliche Details will Finnland noch nicht verraten, da dies den Spielspaß trüben würde. Weiters ist der Ausbau in weitere Städte wie Innsbruck geplant; auch ein Ausbau nach Berlin wäre aufgrund der passenden Orte und der Zielgruppe interessant. Denn eines ist Finnland bei seiner Europatour klar geworden: „Egal welches Land, egal welche Nation – jeder Mensch spielt gerne.“